(ots) - 
   Frau Schavan, warum machen Sie auf Ihrer Sommerreise ausgerechnet 
Station in Leutkirch im Allgäu?
   SCHAVAN: In Leutkirch sind die Bürger schon seit vielen Jahren im 
Umwelt- und Klimaschutz aktiv, und zwar über alle Parteigrenzen 
hinweg. Die Photovoltaik ist dort zum Selbstläufer geworden: 
Inzwischen gibt es fünfzehn Anlagen auf städtischen Gebäuden, die von
den Bürgern finanziert wurden. Die Oberschwaben haben schnell 
erkannt: Umweltschutz kann sich durchaus auch rechnen. In einer 
Kiesgrube steht zum Beispiel eine Freiflächensolaranlage, die pro 
Jahr bis zu sechs Millionen Kilowattstunden Strom erzeugt - das 
reicht für fast zwanzig Prozent aller privaten Leutkircher Haushalte.
Und in den kommenden Jahren soll der Energieverbrauch noch 
effizienter werden.
   Wie soll das gehen?
   SCHAVAN: In Leutkirch produziert der größte Arbeitgeber, ein 
mittelständisches Unternehmen mit fünfhundert Mitarbeitern, schon 
jetzt klimaneutral, ebenso eine mittelständische Brauerei, ein 
Gasthof, eine Druckerei. Der parteilose Oberbürgermeister Hans-Jörg 
Henle, ein studierter Forstwissenschaftler, geht mit seiner eigenen 
Photovoltaik-Anlage als Beispiel voran. Und auch die Landwirte machen
mit: Auf vielen Hofdächern stehen Solaranlagen. In Leutkirch lebt man
nämlich im wahrsten Sinne des Wortes auf der Sonnenseite: Die Kommune
war mit mehr als 2100 Sonnenstunden im vergangenen Jahr einer der 
sonnigsten Orte Deutschlands. Das ist ein großes Potential.
   Leutkirch ist für Sie ein Trendsetter?
   SCHAVAN: Sicher, denn Städte und Gemeinden sind entscheidende 
Akteure für die Entwicklung einer nachhaltigen Lebensweise. Im 
diesjährigen Wissenschaftsjahr "Zukunftsprojekt Erde" spielen sie 
darum eine entscheidende Rolle. Bedenken Sie nur: Rund 84 Prozent der
Deutschen werden bis 2050 in Städten leben. Was wir also brauchen 
sind gute Ideen für einen nachhaltigen - und damit zukunftsfähigen - 
städtischen Lebensraum, ob bei Verkehr, Ernährung, Luftqualität, 
Bildung oder eben Energieversorgung. Die Möglichkeiten reichen von 
"Urban Gardening" bis hin zu Recycling-Projekten. Das ist der Grund, 
warum das Bundesforschungsministerium einen Wettbewerb ausgerufen 
hat: Im Rahmen der sogenannten ZukunftsWerkStadt waren Städte und 
Landkreise aufgefordert, Konzepte rund um nachhaltige kommunale 
Entwicklung zu erarbeiten. Eine Jury hat 16 Städte ausgewählt, eine 
davon ist Leutkirch. Jede Stadt erhält maximal 250.000 Euro, 
insgesamt stellt das Bundesforschungsministerium 3,5 Millionen Euro 
bereit.
   Können sich auch die Bürger beteiligen?
   SCHAVAN: Bei der ZukunftsWerkStadt sind die Bürgerinnen und Bürger
von Beginn an mit eingebunden, sie können sich in diese Pionierarbeit
einbringen und die Entwicklung mitgestalten. Leutkirch geht auch 
dabei voran: Im Projekt "Nachhaltige Stadt", das in Leutkirch im 
vergangenen Jahr initiiert wurde, ist Bürgerbeteiligung zentral. 60 
Einwohner wurden dafür per Zufallsprinzip ausgewählt, 15 Vertreter 
von örtlichen Verbänden und Institutionen kamen hinzu, um gemeinsam 
Ideen und Konzepte zu erarbeiten. In fünf Arbeitsgruppen luden sie 
Experten zu regelmäßigen Workshops ein, informierten sich, einigten 
sich auf Vorschläge. Es ging um Gebäudesanierung,  Mobilität, oder 
darum, wie das Landschaftsbild trotz des Ausbaus der Erneuerbaren 
Energien erhalten werden kann. Das alles ist in ein 
"Energie-Leitbild" eingeflossen, das der Gemeinderat von Leutkirch 
zuletzt beschließen wollte. Die Bürger beteiligen sich aber auch 
finanziell: zum Beispiel über die Energiegenossenschaft Leutkirch eG 
am neuen Solarpark.
   Nicht überall auf der Welt geht es so gut voran wie in Leutkirch. 
Die Staatengemeinschaft tut sich oft schwer, das hat die 
Folgekonferenz Rio+20 kürzlich wieder gezeigt. Wie bewerten Sie die 
Ergebnisse?
   SCHAVAN: Sie sind immerhin Schritte in die richtige Richtung. 
Nehmen Sie das in Rio verhandelte Konzept einer umweltgerechten und 
Ressourcen schonenden "Grünen Ökonomie". Das ist eine neue Form des 
Wirtschaftens. Wichtig ist: Wir müssen Wirtschaft, Umwelt und 
Soziales durch eine Kultur der Nachhaltigkeit in Einklang bringen - 
so wie es eben in Leutkirch schon geschieht. Ökonomie und Ökologie 
gehören zusammen. Nur so kann es gelingen, globale Probleme wie 
Hunger, Bevölkerungsexplosion, Klimawandel und Artensterben zu 
besiegen. Wir brauchen eine gerechte Wirtschaftsordnung, die es allen
Menschen ermöglicht, an Entwicklung, Bildung und Wohlstand 
teilzuhaben. Nachhaltiges Handeln und Wohlstand sind zwei Seiten 
einer Medaille - siehe Leutkirch.
   In Rio ging es vor allem um Politik. Welche Rolle spielt da 
überhaupt noch Wissenschaft und Forschung?
   SCHAVAN: Wissenschaft und Forschung wurden in Rio ernster genommen
denn je. Die Forschung ist klar in der Mitte der Gesellschaft 
angekommen. Sie gibt uns wissensbasierte Handlungsalternativen an die
Hand, mit deren Hilfe wir die großen Probleme unserer Zeit angehen 
können. Im Abschlussdokument der Rio+20-Konferenz wird nicht nur das 
Ziel genannt, bis 2015 international anerkannte Nachhaltigkeitsziele 
für die Staatengemeinschaft zu vereinbaren. Es wird auch ausdrücklich
der wichtige Beitrag der Wissenschaftsgemeinschaft hierzu betont. Das
FONA-Programm des Bundesforschungsministeriums wird zur Entwicklung 
dieser Nachhaltigkeitsziele übrigens wichtige wissenschaftliche 
Grundlagen liefern.
   Impulse kommen in Deutschland nicht zuletzt von der Energiewende. 
Der Chef des Word Ressources Institute in Washington soll sie sogar 
für das größte Nachhaltigkeitsexperiment aller Zeiten halten. Klingt 
das nicht übertrieben?
   SCHAVAN: Mit der Energiewende ist Deutschland international ein 
Vorreiter, zumal als große Industrienation. Das hat man uns in Rio 
deutlich zu verstehen gegeben. Bis 2050 sollen rund 80 Prozent des 
deutschen Energiebedarfs durch erneuerbare Ressourcen gedeckt werden,
das ist sehr anspruchsvoll. Eine "grüne Wirtschaft", wie sie in Rio 
diskutiert wurde, kann nur entstehen, wenn Gesellschaft und Industrie
ständig neue Innovationen schaffen. Wir in Deutschland bekommen das 
gut hin und profitieren davon - bei uns kommen viele Innovationen 
früher auf den Markt als anderswo. Auf dem Ausstellungsgelände in Rio
haben sich darum deutsche Unternehmen präsentiert, darunter 
Energiedienstleister und Automobilunternehmen. Vorgestellt wurden 
auch neue Antriebssysteme, die vielen Aspekte der Elektromobilität 
oder neue Werkstoffe, die auch vom Bundesforschungsministerium 
gefördert werden. In der Umweltbranche ist die Produktion ja 
besonders forschungs- und wissensintensiv.
   Wie geht es weiter voran?
   SCHAVAN: Es gibt in Deutschland eine lange Tradition, Forschung 
und Entwicklung in den Dienst der Nachhaltigkeit zu stellen. Daran 
knüpfen wir an, nehmen Sie nur die nationale 
Nachhaltigkeitsstrategie. Mit dem Wissenschaftsjahr "Zukunftsprojekt 
Erde" wollen wir mit den Bürgern nun ein Jahr darüber diskutieren, 
wie wir künftig leben und wirtschaften wollen. Sicher ist: Um die 
Lebenschancen künftiger Generationen zu bewahren, müssen wir unser 
Leben an vielen Punkten neu ausrichten. Forschung und Entwicklung 
sind auf diesem Weg der Schlüssel. Und um auf Leutkirch 
zurückzukommen: Dort arbeitet die Stadtverwaltung mit der Hochschule 
Biberach, dem Zweckverband Oberschwäbische Elektrizitätswerke und 
anderen Energieversorgern zusammen. Bürger, Wissenschaft und 
Wirtschaft Hand in Hand: Das ist wirklich förderungswürdig.
   Weitere Informationen über:
http://www.bmbf.de/ 
http://www.zukunftsprojekt-erde.de/mitmachen/zukunftswerkstadt.html 
http://www.fona.de/
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