(ots) - Der Anspruch von Auschwitz
von Joerg Helge Wagner
Gerade zwei DinA4-Seiten füllt die Rede, die der Bundespräsident
gestern in Auschwitz gehalten hat. Zu wenig für mehr als 1,1
Millionen Menschen, die hier ermordet wurden? Nein, denn auch eine
ganze Bibliothek würde nicht ausreichen, sich das Grauen in seiner
Gesamtheit vorzustellen - aber das erzählte Schicksal eines einzigen
Opfers gibt uns eine tiefe Ahnung davon. Das wurde gestern erneut
deutlich, als im Bundestag erstmals ein Vertreter der Sinti und Roma
als Überlebender des Nazi-Völkermordes sprach. Die Schilderung von
Zoni Weisz, wie er als einziger seiner Familie dem mörderischen
Rassenwahn entkam, kann keinen der anwesenden Volksvertreter
unberührt gelassen haben. Vertreter eines Volkes, das erfüllt ist mit
Abscheu und Scham über die Verbrechen, die in seinem Namen begangen
wurden - so jedenfalls beteuerte es Wulff in Auschwitz.
Das klingt sicherlich gut für die wenigen noch lebenden Opfer, für
ihre Nachfahren, für die aufmerksamen Beobachter in Polen, Israel,
den Niederlanden und all den vielen Staaten, die einst unter
deutscher Besatzung gelitten haben. Insofern hat Christian Wulff
gestern als oberster Repräsentant des neuen, demokratischen,
weltoffenen Deutschland alles richtig gemacht. Kein Wort zu viel, das
irgendwelche Zweifel nähren konnte an der historischen Verantwortung
Deutschlands, die unabhängig ist von individueller Schuld. Und doch
ist gerade hier Skepsis angebracht, ob der Bundespräsident
tatsächlich das Mehrheitsempfinden seines Volkes wiedergegeben hat.
Ist aus Abscheu und Scham über "Auschwitz" tatsächlich ein besonderes
deutsches Verantwortungsgefühl erwachsen, nie wieder ein solches
Menschheitsverbrechen zuzulassen?
In der Binnensicht kann man das sicher bejahen. In sechs
Jahrzehnten hat sich die Bundesrepublik als eine außerordentlich
stabile Demokratie erwiesen: Gesellschaftliche Konflikte wurden
weitestgehend gewaltfrei ausgetragen; linker wie rechter Extremismus
blieb immer eine Randerscheinung, schlimmstenfalls von regionaler
Bedeutung. Selbst wenn Neonazis gelegentlich den Einzug in
Landesparlamente schafften: Dort wurden sie immer so rasch demaskiert
und vorgeführt, dass sie nie wirklich populär oder gar mehrheitsfähig
werden konnten.
Im Bemühen um "Aufarbeitung" oder "Bewältigung" der NS-Verbrechen
lief die bundesdeutsche Gesellschaft zuweilen sogar Gefahr, es mit
deutscher Gründlichkeit zu übertreiben: Während im
Geschichtsunterricht der 50er und 60er Jahre das Dritte Reich
geradezu ausgeklammert wurde, schien sich in den folgenden
Jahrzehnten die vermitteltete deutsche Geschichte häufig auf diese
katastrophalen zwölf Jahre zu reduzieren. Und die "Einzigartigkeit
des Holocaust" wurde zum Bekenntnis, das wie jeder Glaubensgrundsatz
weitergehende, vergleichende Forschung blockierte. Glücklicherweise
hat eine jüngere Generation von Wissenschaftlern erkannt, dass man so
eine Wiederholung des absolut Bösen kaum verhindern kann, wenn man
seine komplexen Ursachen nicht völlig ausleuchtet.
Genau das aber ist die Verpflichtung, die Wulff gestern in
Auschwitz einforderte: die Würde des Menschen unter allen Umständen
zu wahren, einen derartigen Zivilisationsbruch nie wieder zuzulassen
- in Europa und weltweit. Das weist in Gegenwart und Zukunft. Wulff
hat nicht explizit erläutert, was "unter allen Umständen" zu bedeuten
hat - aber er hat diesen Satz an einem Ort gesagt, an dem das Morden
erst durch eine massive militärische Intervention beendet worden ist.
Und er hat mit Sicherheit nicht bloß das Recht des jüdischen Staates
auf Selbstverteidigung damit unterstreichen wollen. Es geht um die
Mahnung von Millionen Opfern: dass die Menschenrechte immer und
überall für jeden zu gelten haben und durch keinerlei kulturelle
Unterschiede relativiert werden können. Das ist der ungeheure
Anspruch, den Auschwitz an uns stellt.
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