(ots) - Jeder personelle Neuanfang ist für eine Partei
nicht ohne Risiko. Das gilt auch für die Grünen, die ihr
Führungspersonal fast komplett ausgetauscht haben. Claudia Roth und
Jürgen Trittin haben sich in vielen Jahren Respekt erworben. Wenn die
beiden vor die Mikrofone getreten sind, musste niemand wegen der
historischen Bedeutung ihrer Worte vor Ehrfurcht erstarren. Aber
ihnen wurde zugehört - so schrill oder utopisch ihre Äußerungen auch
waren.
Diese Akzeptanz müssen sich Simone Peter und Anton Hofreiter noch
erkämpfen. Weil die Grünen im neuen Bundestag die kleinste Fraktion
stellen, besteht die reale Gefahr, dass sie niemand mehr hören will.
Auf der einen Seite wird eine übermächtige Große Koalition agieren,
auf der anderen Seite die Linkspartei mit einem ausgebufften
Fraktionschef Gregor Gysi.
Daran können auch die Beschlüsse des jüngsten Bundesparteitages
zunächst nichts ändern. Eigenständig will die Partei künftig sein,
kein Bündnis mehr ausschließen und auf einen Holzhammer im Wahlkampf
verzichten. Das wird für ein Wiedererstarken kaum reichen.
Dabei hat die Partei das Thema Wachstum für sich entdeckt. Bei den
nächsten Bundestagswahlen in vier Jahren wollen sie 16,8 Prozent der
Stimmen erzielen - eine Verdoppelung des Ergebnisses vom 22.
September. Das erinnert stark an die FDP, die 2002 von 18 Prozent
geträumt hat. Wo die liberale Partei gelandet ist, weiß jeder. Dieses
Schicksal kann den Grünen erspart bleiben, wenn sie den Versuch
aufgeben, aus den Programmen der großen Parteien abzuschreiben. Wenn
Konzerne sich durch Firmenübernahmen verschluckt haben, erklären sie
ihre Strategieänderung mit der Besinnung aufs Kerngeschäft. Das
könnten auch die Grünen.
Aber Ökologie ist nicht alles. Die Begeisterung für die
Energiewende hat an Schwung verloren. Niemand versteht den Irrsinn,
dass der Strom billiger wird, die Rechnung wegen der Umlagen und
Zuschläge aber steigt. Wer sich für sozial Schwache einsetzen will,
schöpft nicht die Gewinne der Stromkonzerne ab, sondern deckelt
unsinnige Subventionen.
Immerhin haben die Grünen erkannt, dass Wähler rechnen können. Das
Steuererhöhungsprogramm von Jürgen Trittin hat abgeschreckt, nicht
begeistert - das haben die Parteitagsdelegierten eingesehen. Bürger
mit dem Versprechen zu locken, mehr in die Bildung investieren zu
wollen, reicht nicht. Wenn Grüne konkret gesagt hätten, 10 000 neue
Lehrer oder keine Klasse mit mehr als 20 Schülern - der Zuspruch wäre
größer gewesen. Und das Ehegattensplitting kippen zu wollen, hat
vielen potentiellen Grün-Wählern den Rest gegeben.
Und sonst? Wer kümmert sich um die Bürgerrechte? Freiheit statt
Bevormundung - mit diesem Motto haben die Grünen ein
Glaubwürdigkeitsproblem. Die Partei muss daran arbeiten, diesen Makel
zu überwinden. Vier weitere Jahre in der Opposition bieten die Chance
dazu.
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Andreas Kolesch
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