(ots) - Diese Rede war anstrengend - nicht nur für den
91-jährigen Marcel Reich-Ranicki, sondern auch für alle seine
Zuhörer. Doch sie war wichtig, und sie war überragend. Marcel
Reich-Ranicki hat gezeigt, welch große Kraft vom Wort ausgehen kann.
Wer diese Rede zum Holocaust-Gedenktag verpasst hat, sollte sie
nachhören. Unbedingt. Obgleich gesundheitlich angeschlagen, schonte
sich Marcel Reich-Ranicki nicht. Und was er sagte, war ganz und gar
schonungslos. Beklemmend wie beeindruckend. Seine sehr persönlichen
Erinnerungen an den 22. Juli 1942 nahmen den Mitgliedern des
Bundestags den Atem. Sie müssen uns alle still machen. Immer, aber
2012 besonders. Marcel Reich-Ranicki war ein Zeitzeuge der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Seine Worte sind allein
deshalb so wertvoll, weil die Zahl derer, die die Zeit von 1933 bis
1945 bewusst erlebt haben, immer kleiner wird. Marcel Reich-Ranicki
war ein Opfer der Nazis. Seine Eltern und sein Bruder wurden von
Hitler-Deutschland ermordet. Seine Frau Teofila überlebte nur, weil
das Datum der Hochzeit rückdatiert wurde. Marcel Reich-Ranicki
heiratete sie am 22. Juli 1942 - just nachdem er zum Protokollanten
des Todesurteils geworden war, das die Nazis über die Juden im
Warschauer Getto gefällt hatten. Mit seiner Erinnerung an jenes
Protokoll und an jenen Tag hat uns Marcel Reich-Ranicki einen großen
Dienst erwiesen. Er hat sich eine ungeheure Anstrengung zugemutet,
die uns jede kleinere verbietet - jetzt und in Zukunft. Diese
Anstrengung ist nur das sichtbare Zeichen dafür, dass es ein
Vergessen und ein Verdrängen des Holocaust nicht geben kann und
niemals geben darf. Der Schrecken der Nazi-Herrschaft vergeht nie,
die Taten verjähren nie. Die Erinnerung an das Grauen, das Leid und
an die Millionen Opfer muss wachgehalten werden. Sie ist uns Mahnung
und Verpflichtung zugleich. Erst recht im Jahr 2012, am ersten
Holocaust-Gedenktag, der der Aufdeckung einer beispiellosen Mordserie
von Neonazis an ausländischen Mitbürgern folgt. Erst recht in dem
Jahr, in dem eine im Auftrag des deutschen Parlaments erstellte
Studie zu dem Schluss kommt, dass jeder fünfte Deutsche latent
antisemitisch ist. Der Kampf gegen dumpfen Ausländerhass und blinde
Ressentiments gegenüber allem Fremden ist nicht gewonnen. Er muss
weiter geführt werden - auch in Ostwestfalen-Lippe. In Bielefeld sind
vergangenen Heiligabend mehr als als 6000 Menschen gegen einen
Neonazi-Aufmarsch auf die Straße gegangen. Sie haben gezeigt, dass
bei uns kein Platz für braunes Gedankengut ist. Das war und das
bleibt ein ermutigendes Zeichen. Wo immer es nötig ist, müssen
weitere folgen. Das ist das Vermächtnis unserer Geschichte. Das sind
wir unserer Demokratie schuldig. Danke, Marcel Reich-Ranicki, dass
Sie uns auf so beeindruckende Art und Weise daran erinnert haben!
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Andreas Kolesch
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