(ots) - Ein Kommentar von Egbert Nießler
Seit Jahren beklagen Politiker sinkende Wahlbeteiligung, sprechen
von Wahlmüdigkeit und Politikverdruss. Sie geloben, alles dafür zu
tun, sich den Menschen und deren Nöten wieder anzunähern, um sie mehr
an den Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Doch die Erfolge bleiben
bisher aus. Nun gibt es für Wahlzurückhaltung bereits viele
Erklärungen: Die Regierung war bisher einfach gut, oder das Wetter
war es, und die Stimmberechtigten hatten anderes vor. Nichts deutet
auf einen Wechsel hin, sodass keine besondere Motivationslage
herrschte. Meinungsforscher glauben auch, dass sich viele Menschen
aus Enttäuschung über gebrochene Versprechen von der Politik
abwenden. Die Wiederzuwendung wird ihnen allerdings auch durch immer
kompliziertere Wahlverfahren schwer gemacht. Der einfache Wahlzettel
ist in manchen Bundesländern zur veritablen Papiertischdecke mutiert.
In Hamburg ähneln die Wahlunterlagen mittlerweile einer
Steuererklärung, in Bremen waren es am Sonntag ganze Hefte. Vom
typisch deutschen Wahn nach Perfektion angetrieben, entwickeln
Theoretiker immer undurchsichtigere Verfahren, mit denen sich der
Bürgerwille nun aber ganz genau und unglaublich differenziert in
Mandaten niederschlagen soll. Politiker nehmen das dankbar auf, weil
ein komplizierter Wahlzettel wesentlich einfacher herzustellen ist
als die versprochene Bürgernähe. Die ellenlangen Wahllisten und die
Möglichkeit, insgesamt 20 Stimmen zu vergeben, haben in Hamburg unter
anderem dazu geführt, dass manche ihre Kreuze einfach hinter Namen
gemacht haben, die sie eben kannten - völlig unabhängig von
bisherigen Leistungen oder Qualifikationen. Das ist garantiert nicht
demokratischer, als eine Partei anzukreuzen. Auch in Bremen ist das
Ergebnis so, wie es alle Institute vorhergesagt haben und wie es wohl
auch mit einem einfacheren Verfahren eingetreten wäre. Und obwohl die
Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre den Kreis der Berechtigten
erweitert hat, sind weniger Menschen in die Wahllokale gegangen: nur
etwas mehr als die Hälfte der etwa 500?000 Wahlbürger. Bis das
Ergebnis amtlich feststeht, dauert es so lange wie sonst nur in
Kriegs- und Krisenregionen. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen
andere Wege der politischen Partizipation wählen, in
Bürgerinitiativen oder einfach per Demonstration. Oder einfach
fernbleiben. Auch für das Wahlrecht gilt: Manchmal ist weniger mehr.
Und Bürgernähe ist durch nichts zu ersetzen.
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