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Landeszeitung Lüneburg: ,,Gerechtigkeit sieht anders aus" -- Interview mit dem ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske

ID: 259324

(ots) - Die Bundesregierung steht nicht nur wegen des
Sparpaktes, das aus Sicht der Kritiker zu einseitig die sozial
Schwächeren trifft, am Pranger. ver.di-Chef Frank Bsirske kritisert
im Gespräch mit unserer Zeitung auch das Festhalten an der Rente mit
67. Zudem fordert er zur Stärkung des Binnenmarktes höhere Löhne in
Deutschland. ,,Wir hinken den anderen Industriestaaten hinterher",
sagt der Gewerkschafter. Die erste große Tarifauseinandersetzung
steht für Bsirske mit den Bundesländern Anfang 2011 bevor. Konkrete
Forderungen nennt der ver.di-Chef noch nicht, aber die Richtung
dürfte klar sein.

Herr Bsirske, der Arbeitsmarkt ist in erstaunlich guter
Verfassung, das Wirtschaftswachstum war im zweiten Quartal viel höher
als erwartet. Wittert nun auch ver.di Morgenluft und wird in den
kommenden Tarifrunden wie die IG Metall das Ende der Bescheidenheit
einläuten? Frank Bsirske: Ganz sicher ist es notwendig, den
Binnenmarkt zu stärken und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass
Deutschland bei der Lohnentwicklung allen anderen Indus"triestaaten
hinterherhinkt. Die konjunkturelle Erholung steht auf nur einem Bein,
dem Außenhandel. Wer den Binnenmarkt stärkt, stellt die Konjunktur
auf ein zweites Standbein. Das ist umso notwendiger, da es in Europa
erhebliche Risiken gibt. Deutschland wickelt 43 Prozent seines
Außenhandels in der Eurozone, 60 Prozent in der EU ab, aber nur 7
Prozent in den USA und fünf Prozent in China, allerdings mit
steigender Tendenz. Praktisch alle Staaten in Europa setzen
zeitgleich auf eine Politik, die die Märkte eher zusammenzieht. Die
Konjunkturprogramme laufen aus. In den USA wird zudem ein erneuter
Einbruch, ein Double Dip, befürchtet. Diese Risiken machen es
notwendig, den Binnenmarkt in den Fokus zu rü"cken und nicht einfach
so weiterzumachen wie vor der Krise.




Würgt ein zu hoher Lohnabschluss nicht die Industrie und damit im
Endeffekt auch den Binnenmarkt wieder ab? Bsirske: Das Gros des
Bruttoinlandsproduktes wird nach wie vor im Binnenmarkt
erwirtschaftet. Dem Konsum kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu und
damit auch der Lohn"entwicklung. Es gibt also gute Gründe, auf eine
Stärkung des Binnenmarktes zu setzen. Wir blicken zudem auf ein
Jahrzehnt eines deutschen Sonderweges zurück, der im internationalen
Vergleich nicht erfolgreicher war, gemessen an der
Beschäftigungsentwicklung, am Beschäftigungsaufbau, an der
Lohnentwicklung, am Bruttoinlandsprodukts-Wachstum. Da"raus sollten
meiner Meinung nach Konsequenzen gezogen werden. Wir brauchen eine
neue Balance zwischen Außenhandel und Binnenmarkt. Von zentraler
Bedeutung hierbei sind die Lohnentwicklung, die staatlichen
Investitionen und die Bekämpfung des Armutslohnsektors. Wenn man sich
klar macht, dass der gesetzliche Mindestlohn in unseren
westeuropäischen Nachbarländern im Schnitt bei 8,41 Euro liegt und in
Deutschland rund zwei Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter für
Stundenlöhne von fünf Euro oder weniger tätig sind, ist das
alarmierend. Hier gibt es dringenden Handlungsbedarf, denn auch die
Bekämpfung des Armutslohnsektors ist für den Binnenmarkt wichtig.

Wird der Korridor für die ver.di-Tarifforderungen ähnlich wie bei
der IG Metall ausfallen, die sechs Prozent höhere Löhne fordert?
Bsirske: Die Diskussion werden wir erst Ende des Jahres führen. Die
erste wichtige Tarifrunde wird die im öffentlichen Dienst der
Bundesländer Anfang kommenden Jahres sein. Dann folgen weitere
Tarifrunden, die mit erheblichem Konfliktpotenzial einhergehen. Bei
der Druckindustrie sind die Manteltarifverträge von der
Arbeitgeberseite gekündigt worden. Und bei der Post AG laufen Ende
nächsten Jahres alle Beschäftigungssicherungsverträge aus. 2011 wird
also ein sehr interessantes Jahr.

Wird es bei der alten Vorgehensweise bleiben, prozentuale
Lohnerhöhungen für alle Tarifebenen einer Branche zu fordern oder
sollen untere Tarifzonen einen Zuschlag erhalten? Bsirske: Das wird
vom Verlauf der Diskussionen in den Tarifkommissionen abhängen. Aber
wir haben in den vergangenen Jahren in bedeutenden Tarifbereichen
beides gemacht: Wir haben prozentuale Forderungen gestellt und
Forderungen mit Mindestbeträgen und zum Teil mit Sockelbeträgen
beschlossen. Das kam den unteren Lohngruppen zugute. Im Bereich des
Öffentlichen Diens"tes ist eine solche Akzentuierung sehr populär bei
den Mitgliedern. Aber wir werden sehen, wie sich die Diskussionen
entwickeln.

Wären Einmal- oder Bonuszahlungen bei gleichzeitigem moderaten
Lohnanstieg nicht der bessere Weg? Bsirkse: Der beste Weg ist, zu
nachhaltigen Lohnerhöhungen zu gelangen. Dabei stärkt man die
Interessen der Arbeitnehmer und den Binnenmarkt.

Im Mai 2011 wird der deutsche Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte aus
Mittel- und Osteuropa geöffnet. Ministerin von der Leyen will der
Zeitarbeitsbranche eine Art Mindestlohn vorschreiben. Reicht das aus?
Bsirske: Frau von der Leyen will diesen Mindestlohn als Vorschrift
gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit auf einen Sonderfall begrenzen:
Wenn Stammarbeitskräfte ausgegliedert und anschließend über eine
Leiharbeitsfirma wieder auf ihre alten Arbeitsplätze zurück verliehen
werden. Das ist natürlich ein besonders skandalöser Missbrauchsfall
von Leiharbeit. Die grundsätzliche Frage aber bleibt ausgespart:
Welche Funktion soll Leiharbeit in der Zukunft eigentlich haben? Soll
sie ein Instrument sein, um besondere Belastungsspitzen in
Unternehmen flexibler abdecken zu können? Hier würde ich sagen: Das
ist okay, wenn die Bedingungen stimmen. Oder soll Leiharbeit ein
Instrument systematischer Lohndrückerei sein, was gegenwärtig auf
breitester Front der Fall ist? Wir haben derzeit im Bereich
ungelernter Arbeitskräfte Lohndifferenzen von bis zu 50 Prozent im
Vergleich zu Stammarbeitskräften. Wir erleben hier die Rückkehr der
Unsicherheit, der nicht planbaren Lebenssituation, die über
Jahrzehnte das Leben vieler Arbeitnehmer prägt. Das kann in einer so
reichen Gesellschaft wie unserer nicht mehr hingenommen werden. Wir
müssen dafür sorgen, dass es bei gleicher Arbeit an gleichem Ort zu
gleicher Bezahlung kommt. Zudem muss es ein gesetzliches Verbot des
Streikbrechereinsatzes von Leiharbeitern geben. Wir haben in der
Vergangenheit bei praktisch jedem Arbeitskampf erlebt, wie
Unternehmen versucht haben, durch den Einsatz von Leiharbeitern den
Arbeitskampf ins Leere laufen zu lassen. Mit dem, was Frau von der
Leyen jetzt vorhat, wird sie nicht einmal annähernd der Problematik
gerecht.

Wo sollte denn die Höchstüberlassungsgrenze für Leiharbeiter
liegen? Bsirske: Vordringlicher als diese Frage wäre für mich die
Durchsetzung des Prinzips gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit und
ein Synchronisierungsverbot, damit die Beschäftigung als Leiharbeiter
nicht automatisch endet mit einem bestimmten Einsatz in einem
bestimmten Betrieb. Zudem sollte es eine Begrenzung des Anteils von
Leiharbeitskräften an der Gesamtbelegschaft geben. Diejenigen, die
über einen längeren Zeitraum als Leiharbeiter im gleichen Betrieb
eingesetzt sind, kann man im Prinzip mit der Lupe suchen. Und wenn es
tatsächlich Leiharbeiter gibt, die ein oder zwei Jahre in einem
Betrieb arbeiten, sind es oft Spezialisten, die höher bezahlt sind
als der Rest der Belegschaft. Eine Höchstüberlassungsgrenze ist also
nicht das vordringliche Problem. Interessant ist die Situation in
Frankreich: Dort gibt es seit Jahren eine gesetzliche Norm:
Leiharbeiter müssen einen Lohnaufschlag von zehn Prozent auf den Lohn
der Stammarbeitskräfte erhalten, da sie ja unter unsichereren
Bedingungen tätig sind. Trotzdem ist der Anteil von Leiharbeitern im
Verhältnis zur Stammbelegschaft höher als in Deutschland. Die Grünen
fordern einen solchen Prekaritätsaufschlag auch in Deutschland. Ich
könnte dem eine ganze Menge abgewinnen.

Von der Leiharbeit zum Personaltausch. Metalltarifpartner in der
Region Hannover können künftig Beschäftigte austauschen. Laufen die
Geschäfte in einem Unternehmen schlecht und im anderen gut, könnte
also Personal ausgeliehen werden. So könnten Kurzarbeit oder
Kündigungen vermieden werden. Ist dieses Modell auch für ver.di
interessant? Bsirske: Das ist eine sehr intelligente Form von
Beschäftigungsführung, die für bestimmte Bereiche durchaus Schule
machen darf.

Von der Leiharbeit zur Lebensarbeitszeit: Sie halten die Rente mit
67 für ,,Mist". Ist es nicht ehrlicher, den Arbeitnehmern heute zu
sagen, dass kein Weg an einem späteren Renteneintritt vorbeiführt?
Bsirske: Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat eine Studie veröffentlicht,
in der der Frage nachgegangen wurde, welchen Beitragssatz man
eigentlich zahlen muss, um eine annähernd Lebensstandard sichernde
Rente zu garantieren: 27 bis 28 Prozent, hälftig also 13,5
beziehungsweise 14 Prozent. Derzeit haben wir einen Beitragssatz von
19,8 Prozent, also rund zehn Prozent für den Arbeitnehmer und unter
zehn Prozent für die Arbeitgeber. Aus dem alten Bericht der
Bundesregierung nach Durchsetzung der Rente mit 67 geht hervor, dass
ein Durchschnittsverdiener mindestens 34 Beitragsjahre braucht, um
auf eine Altersversorgung auf Hartz-IV-Niveau zu kommen. Wer nur drei
Viertel des Durchschnittsverdiens"tes, also 1800 bis 1900 Euro,
erhält, braucht 42 Jahre, um eine Rente auf Hartz-IV-Niveau zu
bekommen. Das heißt, diese Arbeitnehmer müssten sich zusätzlich
absichern, müssten eine Riester-Rente abschließen. Dass können gerade
die sich aber nicht leisten. Anders ausgedrückt: Bei derzeit knapp
zehn Prozent Rentenbeitragssatz und dann noch knapp vier Prozent für
die Riester-Rente kommt man auf genau den Beitragssatz der oben
erwähnten Studie für eine annähernd Lebensstandard sichernde Rente
mit 65. Die Rente mit 67 bringt eine Beitragssatz-Einsparung von 0,4
Prozent. Aber sie subventioniert im Grunde Gutverdiener, die es sich
leisten können, und stürzt viele, die mit geringen Löhnen dastehen,
in die Altersarmut. Da die meisten Beschäftigten gar nicht bis zum
67. Lebensjahr arbeiten können -- aus gesundheitlichen Gründen, aber
auch, weil es auch in zehn Jahren nicht ausreichend Arbeitsplätze für
65- bis 67-Jährige geben wird -- ist die Rente mit 67 nichts anderes
als ein Rentenkürzungsprogramm. Der Wirtschaftsweise Prof. Peter
Bofinger sagt zum Beispiel, wenn wir in Deutschland nur auf die
EU-Durchschnittsbesteuerung großer Erbschaften und Vermögen gehen
würden, hätten wir 33 Milliarden Euro pro Jahr mehr. Bei der
Unternehmensbesteuerung sind wir ein Niedrigsteuerland. Und es ist
auch nicht gottgegeben, dass der einzige Bereich, der komplett von
der Mehrwertsteuer ausgenommen ist, der Handel mit Aktien ist. In
London werden jährlich sieben bis acht Milliarden Pfund aus der
Besteuerung des Börsenumsatzes erlöst, hier hingegen kein Cent.
Gerechtigkeit sieht anders aus. Das Interview führte Werner Kolbe



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Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe(at)landeszeitung.de


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Datum: 16.09.2010 - 20:53 Uhr
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