PresseKat - ROG: Türkei muss verfassungswidrige Dekrete aufheben / Pressefreiheit liegt nach sechs Monaten Aus

ROG: Türkei muss verfassungswidrige Dekrete aufheben /
Pressefreiheit liegt nach sechs Monaten Ausnahmezustand am Boden

ID: 1448195

(ots) - Reporter ohne Grenzen (ROG) fordert das türkische
Parlament auf, alle Dekrete aufzuheben, die der Verfassung oder den
völkerrechtlichen Verpflichtungen des Landes widersprechen. Sechs
Monate nach Beginn des Ausnahmezustands sind Journalisten und Medien
in der Türkei zunehmend willkürlicher Repression ausgesetzt.

"Nach einem halben Jahr Ausnahmezustand liegt die Pressefreiheit
in der Türkei am Boden", sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr.
"Der Medienpluralismus ist weitgehend zerstört, die wenigen noch
verbliebenen unabhängigen Medien arbeiten in ständiger Angst. Es ist
höchste Zeit, die in der türkischen Verfassung garantierte
Medienfreiheit wieder durchzusetzen. Als erste Schritte müssen alle
verfassungswidrigen Dekrete aufgehoben und alle wegen ihrer Arbeit
inhaftierten Journalisten freigelassen werden."

In den sechs Monaten seit der Ausrufung des Ausnahmezustands haben
die Behörden mehr als 100 Journalisten ohne Prozess inhaftiert, 149
Medien geschlossen und 775 Presseausweise annulliert. Die Vermögen
von 54 Mitarbeitern der geschlossenen Zeitung Zaman wurden
eingezogen, obwohl ihr Prozess noch nicht einmal begonnen hat.
Dutzende Journalisten sind vor drohender Strafverfolgung ins Ausland
geflohen. Ihnen droht aufgrund eines neuen Dekrets der Entzug der
Staatsbürgerschaft.

Eine juristische Analyse, die ROG jetzt dem
Menschenrechtsausschuss des türkischen Parlaments übersandt hat,
zeigt detailliert, wie die derzeitige Praxis weitreichender Dekrete
sowohl gegen die Verfassung als auch gegen verbindliche
völkerrechtliche Verpflichtungen der Türkei verstößt
(http://t1p.de/mpa4). So hat das Parlament entgegen geltendem Recht
viele Dekrete bislang nicht oder nur mit großer Verzögerung
überprüft. Auch verletzt die Türkei die Prinzipien eines fairen
Prozesses und das Verbot willkürlicher Haft, die sich aus der




Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Internationalen Pakt
über bürgerliche und politische Rechte ergeben.

JOURNALISTEN OHNE PROZESS IN HAFT

Die meisten der Journalisten, die kurz nach dem Putschversuch vom
15. Juli verhaftet wurden, warten bis heute auf ihren Prozessbeginn.
Ihre Anträge auf Haftentlassung wurden größtenteils abgewiesen. Unter
den wenigen Ausnahmen sind Hürriyet-Reporter Arda Akin sowie die
früheren Zaman-Kolumnistinnen Lale Kemal und Nuriye Akman. Die
Autorin Asli Erdogan und die Ãœbersetzerin Necmiye Alpay, die Kolumnen
für die mittlerweile verbotene Zeitung Özgür Gündem schrieben, kamen
am 29. Dezember erst nach mehr als vier Monaten im Gefängnis frei.
Sie alle warten weiterhin auf ihre Prozesse.

Mehr als 80 Journalisten sitzen im Gefängnis, weil die Behörden
ihre Medien als Unterstützer des im US-Exil lebenden Predigers
Fethullah Gülen betrachten, den Präsident Recep Tayyip Erdogan als
Drahtzieher des Putschversuchs bezichtigt. Gegen nicht einmal 30
dieser Inhaftierten wurde bislang Anklage erhoben.

Eine erste Gruppe der Inhaftierten von mutmaßlichen
Pro-Gülen-Medien soll sich vom 10. März an vor Gericht verantworten.
Dabei handelt es sich um mehrere Journalisten aus der südtürkischen
Provinz Adana, darunter Aytekin Gezici und Abdullah Özyurt, die zu
Beginn ihres Prozesses schon fast acht Monate in Haft sein werden.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen "Mitgliedschaft in einer illegalen
Organisation" vor, worauf bis zu zehn Jahre Haft stehen. Wegen des
gleichen Vorwurfs beginnt wenig später ein Prozess gegen weitere 28
Journalisten, von denen 25 nach wir vor im Gefängnis sind.

Der 73-jährige Zaman-Kolumnist Sahin Alpay berichtete kürzlich, in
sechs Monaten im Gefängnis sei er kein einziges Mal einem
Staatsanwalt vorgeführt worden. Mehrere Journalisten haben wegen
ihrer fortdauernden Haft das Verfassungsgericht angerufen, aber
bislang keine Reaktion erhalten. Die Anwälte von zwei dieser
Journalisten klagen inzwischen vor dem Europäischen
Menschenrechtsgericht wegen "widerrechtlichen Freiheitsentzugs".

JOURNALISTEN IN ISOLATIONSHAFT

Die Gespräche der inhaftierten Journalisten mit ihren Anwälten
werden von Polizisten beaufsichtigt und von Videokameras
aufgezeichnet, was durch Dekrete möglich wird, die während des
Ausnahmezustands erlassen wurden. Diejenigen, denen Verbindungen zur
Gülen-Bewegung vorgeworfen wird, werden in besonders strenger
Isolation festgehalten. Sie sitzen in Abteilung 9 des
Silivri-Gefängnisses rund 70 Kilometer außerhalb von Istanbul ein, wo
ihnen keinen Zugang zu Post und Medien sowie nur sehr begrenzter
Besuch gewährt wird.

Dies trifft sowohl auf die inhaftierten Zaman-Journalisten zu als
auch auf die elf im Gefängnis sitzenden Mitarbeiter der Zeitung
Cumhuriyet, denen die Behörden ebenfalls eine Gülen-freundliche
redaktionelle Linie vorwerfen. Als Belege einer "Komplizenschaft" von
Cumhuriyet mit der Gülen-Bewegung hat die Staatsanwaltschaft etwa die
Berichterstattung der Zeitung über türkische Waffenlieferungen an
Dschihadisten in Syrien angeführt, über Menschenrechtsverletzungen
bei Militäreinsätzen gegen aufständische Kurden und über Vorwürfe,
mutmaßliche Beteiligte am Putschversuch von Juli 2016 seien gefoltert
worden.

Zehn der Cumhuriyet-Mitarbeiter wurden am 31. Oktober verhaftet,
darunter Chefredakteur Murat Sabuncu, der Kolumnist Kadri Gürsel, der
Karikaturist Musa Kart und Bülent Utku, Vorstandsmitglied der
Cumhuriyet-Stiftung (http://t1p.de/u80l). Am 29. Dezember wurde der
bekannte Investigativjournalist Ahmet Sik verhaftet, der ebenfalls
gelegentlich für Cumhuriyet geschrieben hat (http://t1p.de/d5jf). Die
Gülen-Vorwürfe gegen ihn sind besonders absurd, denn 2011 und 2012
verbrachte er ein Jahr im Gefängnis, weil er den damaligen Einfluss
der Bewegung des Predigers innerhalb des Staatsapparats kritisiert
hatte (http://t1p.de/98z5).

Cumhuriyet-Chefredakteur Sabuncu darf nach eigenen Angaben nur
zwei Stunden pro Woche andere Menschen sehen: eine Stunde lang seine
Frau und eine Stunde seinen Anwalt. Eigentlich stehe ihm das Recht
auf Besuche von drei weiteren Personen zu, aber diese Regel werde
nicht angewandt.

PRESSEAUSWEISE ENTZOGEN, VERMÖGEN BESCHLAGNAHMT, JOURNALISTEN INS
EXIL GETRIEBEN

Seit Beginn des Ausnahmezustands hat die Generaldirektion für
Information und Medien, die dem Amt des Ministerpräsidenten
untersteht, 775 Journalisten die amtlichen Presseausweise entzogen.
Unter den Betroffenen sind bekannte Journalisten wie Hasan Cemal und
Dogan Akin vom Internetportal T24. Dem seit 17 Jahren praktizierenden
Journalisten Nevzat Onaran verweigerte die Behörde die Verlängerung
des Presseausweises mit Verweis auf eine frühere Verurteilung wegen
Agitation gegen den Wehrdienst.

Der bekannten Journalistin Amberin Zaman entzog die Behörde den
Presseausweis Anfang Januar mit der Begründung, sie habe "zu Hass und
Feindseligkeiten angestachelt", indem sie in sozialen Medien die
Kurden als "wichtigste Kraft im Kampf gegen den Islamischen Staat"
bezeichnet habe.

Am 1. Dezember ordnete ein Gericht in Istanbul an, die Vermögen
von 54 ehemaligen Beschäftigten der Zeitung Zaman zu beschlagnahmen,
darunter Sahin Alpay, Mümtazer Türköne, Ali Bulac, Hilmi Yavuz, Ihsan
Duran Dagi und Hamit Bilici. Damit ignorierte das Gericht die
Unschuldsvermutung gegen die Beschuldigten, deren Prozess wegen
angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung noch gar nicht begonnen
hat.

Dutzende Journalisten sind ins Ausland geflohen, um drohenden
Willkürmaßnahmen von Justiz und Verwaltung zu entgehen. Einer von
ihnen ist der ehemalige Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar, der
vergangenen Mai in erster Instanz zu fünf Jahren und zehn Monaten
Haft verurteilt wurde und in seinem deutschen Exil intensiv von ROG
unterstützt worden ist. Er hat angekündigt, erst nach dem Ende des
Ausnahmezustands in die Türkei zurückzukehren. Seine Ehefrau Dilek
Dündar sitzt in der Türkei fest, seit ihr Reisepass am 4. August ohne
Erklärung annulliert wurde.

Neue Gefahr droht exilierten türkischen Journalisten durch das
Dekret 680, das am 7. Januar in Kraft getreten ist. Demnach kann
Menschen die türkische Staatsbürgerschaft entzogen werden, die bei
einem Verdacht oder einer Anklage wegen "subversiver Aktivitäten",
"Angriffen auf den Präsidenten", "Verbrechen gegen die Regierung"
oder "Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation" nicht
innerhalb von drei Monaten einer amtlichen Vorladung Folge leisten.

MEDIEN PER FEDERSTRICH GESCHLOSSEN, RUNDFUNK AN DER KURZEN LEINE

Seit dem 20. Juli 2016 wurden durch Dekrete oder
Verwaltungsanordnungen insgesamt 149 Medien wegen angeblicher
Sympathien für die Gülen- oder die Kurdenbewegung geschlossen. Von
der zuvor vielfältigen Medienlandschaft sind fast nur noch
regierungsfreundliche Publikationen und Kanäle übrig. Nur zwanzig der
geschlossenen Medien durften mittlerweile ihre Arbeit wieder
aufnehmen. So erlaubte das Dekret 675 die Wiedereröffnung mehrerer
lokaler Medien, deren Einfluss aber sehr begrenzt ist.

Die meisten der per Dekret geschlossenen Medien warten bis heute
auf Entscheidungen über ihre Verwaltungsklagen gegen die Sanktionen.
Zwei von ihnen, die oppositionellen Fernsehsender Hayatin Sesi und
IMC TV, wollen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
ziehen. Hintergrund ist eine Entscheidung des türkischen
Verfassungsgerichts, das im Oktober erklärte, für Klagen im
Zusammenhang mit Dekreten während des Ausnahmezustands sei es nicht
zuständig.

Per Dekret wurden auch die Befugnisse des Hohen Rundfunkrats
(RTÜK) erweitert, der türkischen Aufsichtsbehörde für Radio und
Fernsehen. Der Rat kann Sender nun bei einem Verstoß gegen das
Mediengesetz für einen Tag suspendieren. Im Wiederholungsfall kann
die Sperrung zunächst fünf und dann 15 Tage betragen und schließlich
dauerhaft die Lizenz entzogen werden.

Eine Ergänzung der RTÜK-Statuten verbietet den Medien neuerdings
auch, "über Terrorakte, ihre Täter und ihre Opfer zu berichten, wenn
dies den Zielen des Terrorismus dient". Der Rat kann nun außerdem
Medien die Lizenz verweigern, die mutmaßlich eine "Gefahr für die
nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder das Gemeinwohl"
darstellen. Ebenso kann er die Lizenz verwehren, wenn ihn Polizei
oder Geheimdienste auf "Verbindungen" zwischen Mitarbeitern eines
Mediums und einer "terroristischen Organisation" hinweisen.

INTERNET STÄRKER DENN JE KONTROLLIERT

Twitter, YouTube und Facebook werden nach Anschlägen oder anderen
Notfällen mittlerweile routinemäßig gesperrt. Eine neue Dimension
erreichte die Internetzensur jedoch Anfang November, als die Behörden
als Reaktion auf Proteste gegen die Festnahme von
Parlamentsmitgliedern der Kurdenpartei HDP auch die Messaging-Dienste
WhatsApp, Skype und Telegram vorübergehend sperrten.

Zugleich wies die Internetaufsicht türkische Provider an, den
Zugang zu den zehn wichtigsten Anbietern von VPN-Tunneln und zum
Anonymisierungsnetzwerk Tor zu sperren, die zur Umgehung der
Online-Zensur eingesetzt werden (http://t1p.de/aw7b). In den
Kurdengebieten im Südosten des Landes wurde das Internet für mehrere
Tage komplett abgeschaltet (http://t1p.de/me6u).

Auf der Rangliste der Pressefreiheit stand die Türkei bereits vor
dem Putschversuch auf Platz 151 von 180 Staaten (http://t1p.de/ro6x).
Weitere Informationen über die Lage von Journalisten vor Ort finden
Sie unter www.reporter-ohne-grenzen.de/türkei.

WEITERFÃœHRENDE INFORMATIONEN:

- Analyse "Fehlende parlamentarische Kontrolle über Dekrete im
Ausnahmezustand im Widerspruch zu nationalem und internationalem
Recht" (Englisch): http://t1p.de/mpa4
- ROG-Länderbericht zum Ausnahmezustand in der Türkei (Ende
September 2016): http://t1p.de/770f
- Online-Petition für den angeklagten Türkei-Korrespondent von
ROG, Erol Önderoglu:
www.reporter-ohne-grenzen.de/mitmachen/free-erol/



Pressekontakt:
Reporter ohne Grenzen
Ulrike Gruska / Christoph Dreyer / Anne Renzenbrink
presse(at)reporter-ohne-grenzen.de
www.reporter-ohne-grenzen.de/presse
T: +49 (0)30 609 895 33-55
F: +49 (0)30 202 15 10-29

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Datum: 25.01.2017 - 10:02 Uhr
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