(ots) - Gehört das Thema Integration und Migration in den
Wahlkampf oder sollte es besser ausgespart werden?
Aydan Özoguz: Die Erfahrung in Deutschland zeigt, dass dieses
Thema hochemotional aufgeladen ist und leicht populistisch
missbraucht werden kann. Deshalb war ich immer dafür, es aus
Wahlkämpfen herauszuhalten. In der aktuellen Lage muss man aber
natürlich darüber sprechen, wofür jede Partei steht und wie die
Situation tatsächlich ist. Anderenfalls würden viele falsche Dinge
behauptet, ohne dass jemand dagegenhält. Man kann das Thema
Integration und Migration nicht ausblenden, aber es muss so sachlich
wie möglich damit umgegangen werden. Wie viele Flüchtlinge kann
Europa und insbesondere das reiche Deutschland aufnehmen? Es gibt
nicht die eine Zahl. Derzeit ist die Welt in einer merkwürdigen,
bisweilen beängstigenden Lage - denkt man nur an die verbalen
Schlachten, die zwischen Nordkorea und den USA ausgefochten werden.
Wir können uns nicht hinstellen und sagen: "Uns ist egal, was um uns
herum passiert. Wenn die von uns genannte Höchstgrenze erreicht ist,
schließen wir die Grenzen." Vielmehr müssen wir stärker
Fluchtursachen bekämpfen. Leider sind die Kriege, vor denen Millionen
von Menschen flüchten, nicht im Handstreich zu beenden. Den Millionen
Afrikanern, die von ihrem Kontinent vor Hunger und
Perspektivlosigkeit fliehen, können wir aber mit einer ernsthafteren
Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik durchaus helfen. Die leidige
Diskussion innerhalb der Union um eine Asyl-Obergrenze ist nicht mehr
als ein Ablenkungsmanöver, das die Sicht auf die tatsächlichen,
ungleich größeren Probleme, verdecken soll.
Private Seenotretter verlassen das Mittelmeer, weil sie sich von
Italien und der libyschen Küstenwache bedroht fühlen. Ist das
Hochziehen der Zugbrücke eine angemessene Antwort auf den zunehmenden
Migrationsdruck?
Noch immer ist das Mittelmeer ein Massengrab und vielen ist das ja
erst spät bewusstgeworden. Dennoch machen sich viele Menschen zu uns
auf den Weg. Griechenland und Italien müssen durch die EU unterstützt
werden und es braucht endlich eine solidarische Flüchtlingsverteilung
innerhalb der gesamten EU. Zugleich müssen wir ein Auge darauf haben,
welche Perspektive wir eigentlich den Menschen bieten, die derzeit
durch die Vereinbarungen mit der Türkei noch in der Region vor Ort
sind. Denn die meisten Menschen ziehen es vor, den ersten sicheren
Zufluchtsort nicht zu verlassen, wenn sie nur irgendwie bleiben
können und für sich und ihre Kinder dort eine Perspektive sehen.
Was muss die EU tun, um nicht mehr auf politisch zweifelhafte
Torwächter wie die Türkei und Libyen angewiesen zu sein?
Dass wir auf die Türkei angewiesen sind, ist nicht korrekt. In der
Türkei waren bereits zwei Millionen Flüchtlinge gestrandet, bevor
auch nur ein Einziger unsere Grenzen überquert hatte. Es ist wichtig,
dass die EU die Türkei bei der Versorgung und Unterbringung der
Flüchtlinge unterstützt und das sage ich ausdrücklich trotz unseres
schwierigen Verhältnisses mit dem türkischen Präsidenten. Es bedarf
grundsätzlich der Solidarität mit Ländern, die Flüchtlinge aufnehmen.
Und darum können wir auch in Europa nicht ewig zusehen, wie einige
mittel- und osteuropäische Staaten so tun, als seien sie nicht Teil
der europäischen Wertegemeinschaft. Anderenfalls müssten wir auch
über die Solidarität in anderen Politikbereichen sprechen.
Entpuppt sich die EU als Schönwettergemeinschaft, weil es ihr
nicht gelingt, ein funktionierendes Aufnahmesystem zu installieren?
Die EU muss in der Tat stärker zu dem stehen, was sie
Wertegemeinschaft nennt. Einige Staaten scheinen das europäische
Projekt vor allem als Wirtschaftsgemeinschaft zu sehen. Dabei sind
die Zeiten der EWG längst vorbei. In der EU teilen wir weit mehr als
nur Waren, deswegen obliegen den Mitgliedern aber auch gemeinsame
Aufgaben. Wir müssen zu unseren Werten stehen und dürfen sie nicht
bei Herausforderungen aufgeben - wie etwa bei der
Flüchtlingsaufnahme. Es ist angesichts von Kriegen, Hunger und
Klimakollaps nicht zu erwarten, dass die neue Völkerwanderung bald
endet. Brauchen Integration und Migration ein eigenes
Bundesministerium, in dem auch die Befugnisse des
Entwicklungshilfeministeriums integriert werden? Ich glaube nicht,
dass wir auf Dauer um ein Bundesministerium für Integration und
Migration herumkommen, wenn wir das Thema ernst nehmen. Es geht
darum, Kompetenzen zu bündeln. Ich schreibe beispielsweise alle zwei
Jahre einen großen Bericht zur Lage der Integration in unserem Land
und es gibt kein einziges Ministerium, das nicht damit befasst wird.
Wirklich jedes Ministerium wird von diesem Thema berührt. Hier muss
Augenhöhe hergestellt werden, um auch bei Gesetzgebungen stärker auf
verschiedene Sichtweisen zu setzen. Alles andere ist nicht mehr
zeitgemäß.
Verspielt der Staat Vertrauenskapital, wenn er problematische
maghrebinische Zuwanderer in NRW nicht in den Griff bekommt, aber mit
Abschiebungen ausgerechnet nach Afghanistan Härte zeigen will?
Es ist wichtig, dass der Staat an zwei Punkten Glaubwürdigkeit
beweist. Erstens: Er muss Gefährder aufspüren und Straftäter
konsequent verfolgen. Hier muss klare Kante gezeigt werden. Ein Fall
wie der Messerstecher von Hamburg-Barmbek, der auch wegen eines
Formfehlers noch im Lande bleiben konnte, darf nicht passieren.
Zweitens muss die Debatte um Abschiebungen anders geführt werden. Das
Wort klingt nach Härte und Entschlussfreudigkeit, vernebelt aber,
dass eine sehr viel höhere Zahl an Menschen durch eine geförderte
Rückkehr in ihre Heimat zurückkehrt. Das sind Zehntausende, die es
auch einsehen, wenn sie keine Chance auf Asyl haben. Klar ist, dass
nicht jeder, der zu uns kommt, bleiben darf.
Ãœber Jahrzehnte weigerte sich die Union, anzuerkennen, dass
Deutschland ein Einwanderungsland ist. Was können wir aus der nur zum
Teil geglückten Integration türkischer Zuwanderer für die Integration
anderer muslimischer Zuwanderer lernen?
Wir haben bereits unheimlich viel gelernt, wie man an vielen
Gesetzesvorhaben sieht. Aber das hat Jahrzehnte gedauert! 1955 gab es
den ersten Gastarbeiter-Anwerbevertrag mit Italien, aber erst 2005
wurden mit dem Zuwanderungsgesetz verbindliche Sprachkurse
beschlossen. Wir können uns nicht erlauben, jedes Mal 50 Jahre für
derartige Lernerfolge zu brauchen. Mit der jahrzehntelangen
Verleugnung der Tatsache, dass Zuwanderer ins Land kommen, ging
einher, dass kaum etwas für deren Integration getan wurde. Dass das
falsch war, hat aber mittlerweile wohl fast jeder verstanden. Deshalb
gibt es jetzt Sprachkurse und unterstützende Maßnahmen für die, die
bei uns eine Wohnung suchen, eine Ausbildung oder eine Arbeit
aufnehmen möchten. Das ist eine der Lehren, die wir aus der
Vergangenheit gezogen haben. Wir sind heute viel besser aufgestellt,
um die frühe Integration anzupacken. Es tut unserem Land gut, wenn
wir Realitäten anerkennen.
Brachte der große Flüchtlingszustrom 2015 einen Rückschlag für das
Selbstverständnis, Einwanderungsland zu sein?
Auf der einen Seite gibt es sicherlich Rückschläge, etwa
wachsenden Populismus und Fake News, mit denen gegen Flüchtlinge
gehetzt wird. Wie oft habe ich gehört, dass Flüchtlinge angeblich
Tausende Euro Willkommensgeld erhalten sollen. Auf der anderen Seite
war es der Entscheidungsdruck, der dazu führte, dass viele Gesetze
nun endlich angepasst wurden. Das ist gut für diejenigen, die neu zu
uns kommen, aber auch für die, die schon lange da sind. Darum denke
ich, dass die hohen Flüchtlingszahlen eher dazu beigetragen haben,
die Sinne dafür zu schärfen, was wir für ein gutes Miteinander und
mehr Teilhabe in einer vielfältigen Gesellschaft brauchen. So wird
mittlerweile zum Beispiel offen darüber debattiert, dass Menschen mit
türkischen oder arabischen Namen auf dem Wohnungsmarkt oder bei der
Bewerbung zum Ausbildungs- oder Arbeitsplatz diskriminiert werden -
auch mit einem sehr guten Abitur in der Tasche. Da gibt es noch viel
zu tun.
Das Interview führte Joachim Zießler
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