(ots) - Jetzt überschlagen sich wieder alle, die
Künstler, die Politiker, die Fernsehleute: Marcel Reich-Ranicki ist
tot - was für ein Verlust für die Gesellschaft, für die kulturelle
Landschaft! In Wirklichkeit haben die Diplomaten der Kulturszene den
alten Kritiker nicht gemocht. Viele haben ihn sogar gehasst. Und sie
haben ihn gefürchtet, denn er konnte gnadenlos sein. Besonders, wenn
er sich beim Lesen langweilen musste. "Unverständlichkeit ist noch
lange kein Beweis für tiefe Gedanken", war einer seiner
Glaubenssätze. Ja, er war manchmal richtig gemein. Als Martin Walser
ihn 2002 in seinem Kulturkrimi "Tod eines Kritikers" karikierte,
schlug Reich-Ranicki zurück: "Walser hat noch nie so ein erbärmliches
Buch geschrieben!"
Anders als der lieblichen heutigen Literaturchefin der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung lag Reich-Ranicki das Süßholzraspeln nicht.
Zurückhaltung war ihm fremd. Für eine markante Meinung riskierte er
auch den Irrtum. Von Altersmilde konnte keine Rede sein. Unvergessen
ist einer seiner letzten Auftritte im Oktober 2008, als dem schon
sehr gebrechlichen alten Herrn der Deutsche Fernsehpreis verliehen
werden sollte und er ihn schlankweg ablehnte - unter Hinweis auf "den
Blödsinn, den wir hier heute Abend zu sehen bekommen haben". Die
Mächtigen des Showgeschäfts erbleichten, das Publikum war entzückt.
Alle, die seinen Spott nicht zu fürchten hatten, amüsierten sich
prächtig über Reich-Ranickis Direktheit, seine scharfe Rhetorik. Auch
Kulturbanausen kannten seinen Namen und hörten beim Fernsehabend auf
zu zappen, wenn der stets tadellos gekleidete Herr das "Literarische
Quartett" mit Polemik aufmischte. Vor Irrtümern hatte er keine Angst.
Seine Sprechweise, das rollende Rrr, das typische Lispeln, wurde gern
genüsslich imitiert - bis die Geschichte seines Überlebens im
Warschauer Ghetto bekannt wurde und alles in politischer Korrektheit
erstarrte. Er selbst hielt davon gar nichts.
Der letzte Kritiker ist tot. Wir braven Kulturkonsumenten bleiben
ohne seine Leidenschaft zurück. Welch ein Verlust!
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