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Landeszeitung Lüneburg: Erdbebengefahr nicht verdrängen / Seismologe Prof. Rainer Kind: Stabile Gebäude bieten den einzigen Schutz in gefährdeten Gebieten

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(ots) - Wohnhäuser liegen ebenso in Trümmern wie Kirchen.
Tausende Italiener sind obdachlos. Zehntausende schlafen aus Angst
vor weiteren Beben in der Emilia Romagna in ihren Autos oder in
Zelten. Ob der Region noch weitere starke Beben drohen, sei offen,
sagt der Potsdamer Seismologe Prof. Rainer Kind: "Die
Erdbebenvorhersage bleibt ein ungelöstes Problem."

Die Erde in der Emilia Romagna kommt nicht zur Ruhe. Sind dies
Nachbeben oder eher Vorboten eines noch größeren Bebens?

Prof. Dr. Rainer Kind: Das wissen wir nicht, weil die
Erdbebenvorhersage noch ein ungelöstes Problem ist. Normalerweise
justieren sich nach einem einzelnen großen Beben die Spannungen in
der Erdkruste neu über abebbende Nachbeben, die sich in der Region
verteilen. Aber es gibt eine Reihe von Ausnahmen, etwa Fälle, in
denen Nachbeben die Stärke des Hauptbebens erreichen. Da ist es dann
Definitionssache, ob man von neuen Beben spricht oder von Nachbeben.
So etwas hat es in Italien schon gegeben: In Friaul etwa bebte 1976
die Erde im Mai und im September mit fast der gleichen Stärke. Es gab
fast 1000 Tote.

Gibt es Fortschritte bei der Vorhersagbarkeit von Erdbeben?

Prof. Kind: Die Erdbebenvorhersage bleibt das große ungelöste
Problem der Seismologie. In den 70er-Jahren war man euphorisch, bei
der Suche nach Vorläufern von Beben fündig zu werden. Man hat
versucht, Muster in der seismischen Hintergrundaktivität zu finden;
man hat auf Korrelationen zwischen dem Grundwasserspiegel und Beben
gehofft; man hat Geschwindigkeitsänderungen seismischer Wellen
erforscht, um auf Spannungsänderungen in der Erdkruste
zurückzuschließen; man hat den Austritt von Edelgasen beobachtet,
etwa von Radon vor dem Beben in den Abruzzen im Vorjahr; man hat die
elektrische Leitfähigkeit untersucht. Doch letztlich konnte man nur




Beobachtungszusammenhänge feststellen, aber keine physikalischen
Zusammenhänge. In der Folge sind die Seismologen zurückhaltender
geworden. Treffsichere Vorhersagen sind wohl erst in Jahrzehnten zu
erwarten. Vielversprechend erscheint in jüngster Zeit der Ansatz,
Deformierungen der Erdkruste über GPS zu beobachten. Im Vorfeld von
Erdbeben kann es zu messbaren Verschiebungen im Millimeterbereich
kommen. Deformationen der Erdkruste nach Erdbeben sind mit GPS klar
messbar.

In welchen Regionen wird versucht, die Plattentektonik über
GPS-Abgleiche zu beobachten?

Prof. Kind: Das wird vor allem in den extrem gefährdeten Regionen
untersucht, etwa Japan und Kalifornien. Dort gibt es eine Vielzahl
von GPS-Messstationen. In Italien sind die Anstrengungen in dieser
Richtung noch am Anfang.

Wie gut ist Italien etwa im Vergleich mit Japan auf Beben
vorbereitet?

Prof. Kind: Italien hat weit zurückreichende Erfahrungen mit
Erdbeben. Der beste Schutz vor Beben ist natürlich eine sichere
Bauweise der Häuser. Und da muss man in Italien Abstriche machen
wegen der vielen historischen Bauwerke und auch teilweise wegen nicht
eingehaltener Bauvorschriften bei neueren Gebäuden, wie man jetzt in
der südlichen Po-Ebene sehen kann. In Japan und Kalifornien wird sehr
großer Wert auf eine erdbebensichere Bauweise gelegt. Dort richten
Beben bei vergleichbarer Stärke sehr viel weniger Zerstörungen an und
fordern weniger Opfer als etwa im Osten der Türkei. Entscheidend ist
natürlich auch zu wissen, wo die Gefährdung am größten ist, um dies
bei Bauprojekten zu berücksichtigen. Während etwa Italien nahezu in
Gänze gefährdet ist - die jetzt so stark getroffene Po-Ebene galt
bisher aber eigentlich als weniger gefährdetes Gebiet -, ist in Japan
die erdbebengefährdete Zone entlang der pazifischen Küste
konzentriert.

Wieso ist das Gedächtnis der Menschen so kurz, wieso siedeln sie
immer wieder in seismisch heißen Zonen wie Tokio, San Franciso oder
Istanbul?

Prof. Kind: Zum einen sind diese Regionen attraktive Gebiete, in
denen Menschen schon seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden
siedeln. Zum anderen geschehen katastrophale Erdbeben in großen
Abständen, was die seismische Vergesslichkeit befördert. Hat es ein
oder zwei Generationen kein Erdbeben gegeben, fühlen sich die
Menschen wieder sicher. Man kann natürlich nicht erwarten, dass die
genannten Mega-Städte in den gefährdeten Regionen aufgegeben werden.
Der einzige - und auch nennenswerte - Schutz bleibt eine sichere
Bauweise. Allerdings werden große Beben direkt unter diesen Städten
auch künftig viele Opfer fordern. Zwar hat selbst das große
Tsunami-Beben vor einem Jahr in Japan relativ geringe direkte
Zerstörungen angerichtet, weil die Gebäude den seismischen Wellen
widerstanden haben, aber verheerend waren die Folgen des Tsunami, den
das Beben ausgelöst hatte. Bei Tsunamis können aber Warnsysteme
helfen.

Trotz sicherer Bauweise vor Ort haben Sie mal gesagt, Sie wären
immer ganz froh, wenn Sie nach Tagungen San Francisco wieder den
Rücken kehren könnten...

Prof. Kind: So schlimm ist es nicht. Die Wahrscheinlichkeit, von
einem Erdbeben getroffen zu werden, ist sehr gering. Wer in solchen
Gebieten lebt, sollte aber nicht verdrängen, dass es zu einem starken
Erdbeben kommen kann - morgen, in zehn oder in hundert Jahren. Die
meisten Menschen hoffen darauf, dass es in ihrer Lebenszeit nicht
passiert, aber irgendwann wird es passieren.

Gibt es Zusammenhänge zwischen den Beben in Italien und denen in
Bulgarien?

Prof. Kind: Das ist eine interessante Frage angesichts von zwei
Beben in Bulgarien unmittelbar nach denen in der Emilia Romagna.
Prinzipiell ist die Ursache für alle Beben im Mittelmeerraum die
gleiche: Die afrikanische Platte schiebt sich mehrere Meter im
Jahrhundert nach Nordosten gegen die eurasische Platte. Das ist eine
beträchtliche Größenordnung, bei der sich das Mittelmeer immer mehr
schließt. Bei jedem einzelnen Beben laufen allerding so komplizierte
Vorgänge ab, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Beben
in Italien und denen in Bulgarien nicht zu beweisen ist. Jedes
Erdbeben vermindert die Spannungen in der Erdkruste in der
unmittelbar betroffenen Region, in Norditalien kann dies ein Areal
von 50 Kilometer Länge betreffen. Das wiederum wirkt sich auf die
Nachbarregionen aus, ändert dort die Spannungsverhältnisse und kann
auch dort zu Beben führen. Im Falle Norditaliens ist dies innerhalb
von Zehn-Kilometer-Abschnitten denkbar. Aber noch niemandem ist ein
direkter Nachweis eines Folgebebens in einer so weit entfernten
Region wie dem Balkan gelungen.

Muss im Gefolge erhöhter tektonischer Aktivität auch mit
vulkanischen Aktivitäten gerechnet werden?

Prof. Kind: Das kann passieren, ist zum Beispiel in Chile
beobachtet worden. Dort schiebt sich die Pazifische Platte unter den
südamerikanischen Kontinent. Im Juni 2011 hat ein Beben der Stärke
4.9 Südchile erschüttert - und den Vulkan Puyehue geweckt. Deutlich
mehr Vulkane wurden nach dem großen Chile-Erdbeben von 1960 aktiv.
Der Grund ist: Die Vulkane sitzen direkt auf dem Feuerring, werden
verursacht durch das Abtauchen der ozeanischen Platte unter den
Kontinent. Ein Erdbeben am Vesuv könnte auch diesen Vulkan zum Leben
erwecken.

Dann sollte man seinen Neapel-Besuch verschieben?

Prof. Kind: Nein. Zwar ist ganz Italien eine Erdbeben-Region, doch
die Wahrscheinlichkeit, eines zu erleben ist sehr gering. Und durch
die Beben in der Po-Ebene hat sich die seismische Gefährdung in den
anderen Regionen Italiens nicht erhöht.

Das Interview führte Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe(at)landeszeitung.de


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Datum: 31.05.2012 - 18:49 Uhr
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