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Landeszeitung Lüneburg: Westerwelle, ein Parteichef auf Abruf / Parteienforscher Prof. Lothar Probst: Fukushima hat tektonische Veränderungen des Parteiengefüges noch verstärkt

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(ots) - Dieser Wahlsonntag wird einen Platz in den
Geschichtsbüchern erhalten. Erstmals eroberten die Grünen das Amt des
Ministerpräsidenten. Und dies im Südwesten der Republik, den sowohl
Konservative als auch Liberale als ihr Kernland betrachten. Der
Bremer Parteienforscher Prof. Probst ist sicher: Dieser Wahltag
offenbarte langfristige Verschiebungen im deutschen Politikgefüge.

Ein grüner Ministerpräsident im Kernland der beiden bürgerlichen
Parteien. Hat der jüngste Wahlsonntag die politische Landschaft
nachhaltig verändert oder erleben wir eine bloße Momentaufnahme?

Prof. Lothar Probst: Bisher gab es in der Bundesrepublik nur
Wechsel zwischen Minis"terpräsidenten der beiden großen
Volksparteien. Der Wechsel von einem "schwarzen" zu einem grünen
Ministerpräsidenten ist ein absolutes Novum. Zudem hat das Ergebnis
die Parteienlandschaft umgepflügt. Dass die SPD in Baden-Württemberg
zweiter Sieger hinter den Grünen wurde, ist eine Erfahrung, die sie
bisher nur in den ostdeutschen Ländern mit der Linkspartei machen
musste. Und die Union hat erneut die Macht in einem wichtigen
Bundesland verloren: letztes Jahr Nordrhein-Westfalen, jetzt
Baden-Württemberg --- beide mit je sechs Stimmen im Bundesrat. Das
sind Veränderungen, die die Tektonik des Parteiensys"tems nachhaltig
beeinflussen werden.

Muss Wahlsieger Kretschmann nach 58 Jahren CDU-Herrschaft in
Stuttgart die Obstruktion einer konservativen Ministerialbürokratie
überwinden?

Prof. Probst: In der Verwaltung sitzen Leute, die es gewohnt sind,
einer konservativen Regierungspartei zuzuarbeiten. Das ist ein harter
Brocken für Winfried Kretschmann -- einer von vielen: Wie kommt er
aus dem Projekt ,,Stuttgart 21" heraus? Gelingt ihm die Energiewende
in einem Land mit einer starken Atomlobby? Wie kommt er mit einem




Koalitionspartner klar, der sich auf Augenhöhe wähnt? Und wie hält er
die konservativen Wählerschichten bei Laune, die dieses Mal "grün"
gewählt haben? Wenn jemand diese Herkulesaufgaben bewältigen kann,
dann ist er es in seiner ruhigen Art, dem Motto von Johannes Rau
nacheifernd: "Zusammenführen statt spalten".

Können sich die Grünen auch zu Tode siegen? Die Erwartungen
dürften ins Unrealistische steigen.

Prof. Probst: Nein, denn so schnell dürfte sich dieser Erfolg
nicht wiederholen. Am ehesten noch in Bremen, wo die Grünen laut
Umfragen die CDU als zweitstärkste Kraft ablösen könnten. Der Vorstoß
in neue Dimensionen wird die Politik der Grünen aber verändern
müssen. Schließlich befinden sich unter den 25 Prozent Wählern auch
viele, die in vielen Fragen nicht auf einer Linie mit dem
Grünen-Programm sind.

Die einen feiern trotz historischem Stimmen-Tiefststand, die
anderen trauern trotz geringer Verluste. Wer sind die wahren Gewinner
und Verlierer der beiden Wahlen?

Prof. Probst: Die Gewinner sind natürlich die Grünen. Aber auch
die Union hat sich eigentlich ganz achtbar geschlagen. Die Verluste
in Baden-Württemberg sind angesichts der Umstände nicht so
dramatisch, wie die CDU befürchtet hat -- in Rheinland-Pfalz hat sie
sogar zugelegt. Für die SPD war dieser Wahlsonntag kein Erfolg. Zehn
Prozent Verlust in Rheinland-Pfalz zeugen von einem Abnutzungseffekt
nach 16 Jahren Kurt Beck und der Quittung für hausgemachte Skandale.
Das Wahljahr hatte mit Hamburg für die SPD gut begonnen, doch wer als
Volkspartei hinter den Grünen einläuft, ist wieder auf dem Boden der
Tatsachen gelandet. Der Hauptverlierer des letzten Wahlsonntags ist
die FDP. Ihr Absturz spiegelt den desolaten Zustand der Partei wider.
Die Führungsfrage ist ungeklärt und ständige inhaltliche Schwenks
haben der Glaubwürdigkeit geschadet. Seit der Bundestagswahl 2009 mit
dem grandiosen Wahlergebnis von 15 Prozent hat die Partei den Kredit
bei ihren Wählern total verspielt. Auch der Siegeszug der Linken im
Westen ist zum Stillstand gekommen. In den relativ wohlhabenden
südlichen Bundesländern findet die Linke kaum Resonanz für ihre stark
auf soziale Gerechtigkeit verengten Parolen. Und
Kommunismus-Debatten, wie sie Gesine Lötzsch angezettelt hat, kommen
dort erst recht nicht gut an.

Ist Fukushima wirklich das alles erklärende Phänomen oder
verändert sich das Grundgefüge des Parteiensystems?

Prof. Probst: Die Atomkatastrophe in Japan hat die seit langem
feststellbaren tektonischen Verschiebungen situativ verstärkt. Seit
Jahren lässt die Integrationsfähigkeit der Volksparteien nach -- sie
verlieren kontinuierlich Mitglieder und Wähler. Ihre traditionellen
Wählermilieus erodieren. Das lässt sich an der sinkenden Zahl der
Kirchgänger und gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten ablesen.
Außerdem sind die Wähler der Mitte --- Angestellte, Beamte sowie
Selbstständige in der Kreativwirtschaft, in Humandienstleistungen und
im Bereich der neuen Technologien -- wählerischer und sprunghafter
geworden. Ein zunehmend größerer Teil der Wähler geht schließlich in
die Wahlenthaltung. Dass die Wahlbeteiligung am letzten Wahlsonntag
gestiegen ist, war eine absolute Ausnahme und verdankt sich der
Tatsache, dass die als lebenswichtig empfundene Frage der weiteren
Atompolitik viele Nichtwähler mobilisiert hat. Die Veränderungen im
Parteiengefüge kann man auch daran erkennen, dass die
Regierungsbildung immer schwieriger wird und zu neuen Experimenten
führt: Rot-Rot, Schwarz-Grün, Jamaika und jetzt Grün-Rot.

Wie kann die SPD ihren Absturz bremsen? Soll sie mit der Linken um
den Weg zu sozialer Gerechtigkeit rangeln oder mit der CDU um die
Mitte?

Prof. Probst: Wenn die SPD als Volkspartei überleben will, hat sie
keine andere Alternative, als mit der CDU um die Wähler der Mitte zu
kämpfen. Der Wahlsieg von Olaf Scholz in Hamburg war in dieser
Hinsicht beispielhaft. Er verband wirtschaftliche Kompetenz,
glaubwürdig repräsentiert vom IHK-Präses Frank Horch, mit sozialer
Gerechtigkeit, etwa dem Versprechen gebührenfreier Kitas.

Grüne Ideen sind weit ins Bürgertum vorgedrungen. Muss die Union
grüner werden oder sich im Gegenteil auf ihren konservativen Kern
besinnen?

Prof. Probst: Der Rückzug auf den konservativen Kern würde der
Union nicht weiterhelfen. In der Familienpolitik hat Frau von der
Leyen die Parteien weit geöffnet für Positionen, die bisher von SPD
und Grünen vertreten wurden. In der Wehrpflicht hat Ex-Minister zu
Guttenberg die Wende eingeläutet, die de Maizière jetzt weiterführen
muss. Die Union hat in vielen Fragen ganz klassische Positionen des
Konservatismus geräumt, weil die Wähler in der Mitte gewonnen werden
müssen. Unterdurchschnittliche Unterstützung erfährt die Union in
urbanen Zentren, unter Jungwählern und Frauen. Treu bleiben ihr vor
allem die Wähler jenseits der 60. Bei dieser klassischen Klientel und
ihren Kernwählern punktet die Union nach wie vor mit den Themen
Zuwanderung, Kriminalititätsbekämpfung und innere Sicherheit.

Wird Guido Westerwelle der erste Außenminister, dem das Amt keine
Bonuspunkte einbringt?

Prof. Probst: Danach sieht es aus. Selbst der Grüne Joschka
Fischer hat es geschafft, als Außenminister zu einem der beliebtesten
Politiker zu werden. Dass Westerwelle in der Sympathieskala ganz
unten rangiert, liegt auch an seinem Zickzackkurs -- etwa aktuell in
der Libyen-Krise. Die Enthaltung im Verein mit Russland und China
sorgt bei gestandenen Außenpolitikern für Kopfschütteln und bei der
eigenen Wählerschaft für Verunsicherung. Weil er weder als Parteichef
noch als Außenminister Profil gewinnen konnte, gehe ich davon aus,
dass sich seine Zeit als Parteivorsitzender dem Ende nähert und wir
in diesem Jahr noch einen neuen FDP-Chef erleben werden.

Atomausstieg statt Hotelier-Steuergeschenke -- ist das der Weg
zurück zur 15-Prozent-Partei?

Prof. Probst: Das glaube ich nicht. Dass die FDP jetzt versucht,
die Grünen links zu überholen beim Atomausstieg, ist nicht
glaubwürdig. Noch vor vier Monaten hat Wirtschaftsminister Brüderle
davor gewarnt, dass die Lichter ausgehen, wenn wir auf die Atomkraft
verzichten. Diese radikale Wende riecht danach, dass die Liberalen
nur auf einen Zug aufspringen wollen, um sich zu retten. Darüber
hinaus ist die Position der FDP in der Koalition geschwächt, sodass
Finanzminister Schäuble kaum die Schatulle öffnen wird, um
Steuersenkungen zu spendieren.

Ist es Zufall, dass mit der Linken die zweite Partei abgestraft
wurde, die in Libyen auf einen pazifistischen Kurs drängte oder
spielte das bei den Landtagswahlen keine Rolle?

Prof. Probst: Das hat meines Erachtens keine wichtige Rolle
gespielt. Die Libyen-Politik hat allenfalls die allgemeine
Verunsicherung in der CDU- und FDP-Wählerschaft noch verstärkt. Das
entscheidende Thema war die Katastrophe in Japan und die
Energiepolitik. Wahrscheinlich hätte es ohne Fukushima für CDU und
FDP in Baden-Württemberg sogar gereicht. Doch die Spekulation ist
müßig, denn alle mussten auf das Desaster reagieren. Durch die
unnötige Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke hatte sich
die Regierungskoalition selbst ins Abseits manövriert. Jetzt muss sie
zurückrudern -- eine Verlängerung der Laufzeiten wird es nicht mehr
geben.

Das Interview führte

Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
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Datum: 31.03.2011 - 20:23 Uhr
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