PresseKat - Russland vor der Wahl: Kreml muss kritische Berichte zulassen

Russland vor der Wahl: Kreml muss kritische Berichte zulassen

ID: 1400462

(ots) - Vor der Parlamentswahl in Russland am kommenden
Sonntag ruft Reporter ohne Grenzen (ROG) die russische Regierung dazu
auf, unabhängige Berichte zuzulassen und kritische Journalisten und
Blogger nicht länger strafrechtlich zu verfolgen. In den vergangenen
fünf Jahren hat der Kreml mindestens zwölf regierungskritische
Redaktionen zerschlagen. Die Zahl der gesperrten Webseiten ist in die
Höhe geschnellt, Internetnutzer werden inzwischen selbst für das
bloße Weiterleiten unliebsamer Texte zu mehrjährigen Haftstrafen
verurteilt.

"Es erstickt auf lange Sicht jede gesunde Gesellschaft, wenn eine
autoritäre Regierung das Monopol über die Berichterstattung hat und
mit eiserner Hand versucht, jeden Kritiker mundtot zu machen. Das
muss der Kreml endlich einsehen", sagte ROG-Geschäftsführer Christian
Mihr. "Zwar gibt es in Russland einige letzte Inseln der
Pressefreiheit wie den Internet-Sender TV Doschd, die Tageszeitung
Nowaja Gaseta oder den Radiosender Echo Moskwy. Doch sie erreichen
nur noch einen verschwindend geringen Teil der Bevölkerung."

GRÖSSTES UNABHÄNGIGES MEDIENHAUS UNTER KONTROLLE GEBRACHT

Seit den Parlamentswahlen 2011 hat der Kreml in mindestens zwölf
Fällen regierungskritische Redaktionen zerschlagen, die Finanzierung
unabhängiger Medienunternehmen zerstört oder unbequeme Sendungen
abgesetzt (http://ogy.de/9ini). Zuletzt traf es Mitte 2016 die
Medienholding RBK, das größte unabhängige Medienhaus des Landes, zu
dem eine Tageszeitung, eine Nachrichtenagentur, ein Onlinemagazin und
ein Fernsehsender gehören. RBK hatte sich mit Recherchen über
Korruption bei Prestige-Bauprojekten oder dem Vorgehen Russlands in
Syrien und in der Ostukraine einen Namen gemacht und gehörte zum
internationalen Rechercheverbund, der Anfang April über die Panama
Papers berichtete und Offshore-Geschäfte enger Putin-Vertrauter




enthüllte.

Noch im gleichen Monat durchsuchten Steuerfahnder die
Unternehmensbüros des Oligarchen Michail Prochorow, zu dessen Konzern
RBK gehört. Mitte Mai wurde der Chefredakteur der Tageszeitung RBK,
Maxim Soljus, entlassen. Jelisaweta Ossetinskaja, Chefin der
Medienholding, und Roman Badanin, Chefredakteur der Agentur, räumten
daraufhin ebenfalls ihre Posten. Ihnen folgten zwanzig weitere
Mitarbeiter, zumeist leitende Redakteure, die RBK verließen
(http://ogy.de/gt90, http://ogy.de/j4w0).

KRITISCHE JOURNALISTEN DURCH KREMLTREUE ERSETZT

Neue Chefredakteure wurden Anfang Juli Jelisaweta Golikowa und
Igor Trosnikow, zwei kremlnahe Journalisten der staatlichen
Nachrichtenagentur TASS. In ihrer ersten Redaktionsversammlung, von
der ein Mitschnitt an die Presse gelangte, erläuterten die beiden, im
Journalismus seien bestimmte Regeln zu beachten und eine gewisse
Linie dürfe nicht überschritten werden (http://ogy.de/xeyl).

Zuvor hatte im Januar 2016 bereits die für ihre kritische
politische Berichterstattung bekannte russische Ausgabe des Magazins
Forbes ihren Chefredakteur verloren. Hintergrund war ein Gesetz, dass
am 1. Januar 2016 in Kraft trat und ausländische Anteile an
russischen Medien auf maximal 20 Prozent beschränkt. Nach mehr als
zehnjähriger Tätigkeit auf diesem Markt gab der Axel Springer Konzern
sein publizistisches Engagement in Russland deshalb komplett auf und
Forbes wechselte den Besitzer. Alexander Fedotow, der neue
Eigentümer, kündigte an, man werde in Zukunft "politisches Gebiet"
meiden (http://ogy.de/iott). Als er sich immer stärker in die
Redaktionsarbeit einmischte, verließ Chefredakteur Elmar Murtasajew
Anfang 2016 das Magazin.

INTERNET: SCHON WEITERLEITEN IST STRAFBAR

Auch das Internet, lange Zeit der letzte Ort für kritische oder
gar provokative Diskussionen über die Zustände im Land, kontrolliert
der Kreml immer intensiver. Nachdem sich die Verbreitung
kremlkritischer Gedanken durch das Sperren von Webseiten nicht
effektiv genug verhindern ließ, setzt die Regierung nun zunehmend
einzelne Nutzer unter Druck. Ende Juli 2016 wurden mehrere Gesetze
verabschiedet, die das Strafrecht verschärfen und die
Massenüberwachung ausbauen. Sie verpflichten russische
Mobilfunkanbieter und Internetprovider, Nutzerdaten sechs Monate lang
zu speichern und gegebenenfalls dem russischen Geheimdienst zu
übergeben (http://ogy.de/9hhq). Seit September 2015 verlangt ein vage
formuliertes "Datenschutzgesetz", Internetdaten russischer Bürger
ausschließlich auf Servern in Russland zu speichern. Seit Mai 2014
müssen sich Blogger, deren Seite täglich mehr als 3000 Mal gelesen
wird, als Nachrichtenmedien registrieren lassen.

2015 wurden nach Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation
Agora mindestens 18 Internetnutzer wegen kritischer Posts verurteilt
- oder wegen deren Weiterverbreitung, denn nach Ansicht der Gerichte
zählt schon ein "Like" als Verbreitung von Information. Ende Dezember
2015 wurde der Blogger Wadim Tjumenzew in Tomsk zu fünf Jahren Haft
verurteilt, weil er zwei Videos zum Thema Ukraine veröffentlicht
hatte (http://ogy.de/59y8). Der Aktivist Rafis Kaschapow aus
Tatarstan erhielt eine Haftstrafe von drei Jahren, weil er Material
über die Verletzung der Rechte von Krimtataren nach der Annexion der
Halbinsel Krim verbreitet hatte (http://ogy.de/6rnw).

TAUSENDE KRITISCHE WEBSEITEN GESPERRT

Die Anzahl gesperrter Webseiten stieg Agora zufolge 2015 im
Vergleich zum Vorjahr um das Neunfache: von 1000 auf 9000 Seiten
(http://ogy.de/33hr). Seit Putins Amtsantritt als Präsident 2012 kann
die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor Internetseiten ohne
Gerichtsbeschluss sperren. Mithilfe einer Reihe schrittweise
verabschiedeter Gesetze blockiert die Behörde Inhalte nach schwammig
formulierten Kriterien: zum Schutz von Kindern oder der Sicherheit
des Landes, wegen des Themas Homosexualität oder beim Gebrauch von
Schimpfwörtern. Unterstützung erhält Roskomnadsor von der so
genannten Mediengarde, einem Zusammenschluss von mehr als 4300
Freiwilligen, die missliebige Inhalte melden (http://t1p.de/de4p).

Wenige Monate vor der Wahl blockierte die Behörde im Mai 2016 die
von Radio Free Europe / Radio Liberty betriebene regierungskritische
Seite krym.realii, als dort ein Interview mit einem Vertreter der
Krimtataren erschien. Die Seite rufe zu Hass und Extremismus auf, so
die Staatsanwaltschaft (http://ogy.de/17nd). Roskomnadsor hatte nach
Demonstrationen im Frühjahr 2014 begonnen, ganze Webseiten - und
nicht nur einzelne Inhalte - zu sperren. Betroffen war unter anderem
die oppositionelle Nachrichtenseite grani.ru (www.graniru.org).
Reporter ohne Grenzen entsperrte die Seite zum Welttag gegen
Internetzensur am 12. März 2015: Sie wurde gespiegelt und in der
Cloud großer Server-Anbieter abgelegt (http://t1p.de/b4h7).

Grani.ru und zahlreiche andere gefährdete Webseiten geben ihren
Nutzern inzwischen detaillierte Anweisungen, wie man Sperren umgehen
kann. Die Zahl der Russen, die das Anonymisierungsnetzwerk Tor
verwenden, ist seither sprunghaft gestiegen: Nach Angaben des
Internet- und Ãœberwachungsexperten Andrej Soldatow liegt Russland
inzwischen hinter den USA auf Platz zwei der weltweiten Tor-Nutzer
(http://ogy.de/pjyl).

ANGRIFFE AUF JOURNALISTEN UND MENSCHENRECHTSAKTIVISTEN

Kritische Journalisten bleiben in Russland Ziel willkürlicher
Strafverfolgung oder gewalttätiger Übergriffe. So wurde am 5.
September 2016 der tschetschenische Journalist Schalaudi Gerijew
wegen angeblichen Drogenbesitzes zu drei Jahren Haft verurteilt. Er
hatte für kavkaz-uzel.ru gearbeitet, eine der wichtigsten
Nachrichtenseiten über die Kaukasus-Region (http://ogy.de/dmq8). Ende
Juli verlängerte ein Moskauer Gericht die Haftstrafe des Moskauer
Investigativjournalisten Alexander Sokolow. Der ehemalige
RBK-Journalist sitzt wegen konstruierter Extremismus-Vorwürfe im
Gefängnis (http://ogy.de/pg56).

Gewaltsam angegriffen wurden am 9. März sechs Journalisten und
zwei Menschenrechtsaktivisten, die im Nordkaukasus zu Recherchen
unterwegs waren. In Inguschetien, nahe der Grenze zur Nachbarrepublik
Tschetschenien, überfielen mindestens 15 Männer den Minibus der
Gruppe. Sie zwangen die Insassen auszusteigen, schlugen sie und
setzten das Fahrzeug in Brand. Zu den Opfern gehörten vier russische
und zwei ausländische Journalisten: Alexandra Elagina (The New
Times), Jegor Skoworoda (Mediazona), die freien Journalisten Anton
Prusakow und Michail Solunin sowie Lena Perrson Loefgren vom
Staatlichen Radio Schwedens und Oeystein Windstad von der
norwegischen Tageszeitung Ny Tid. Fünf von ihnen mussten im
Krankenhaus behandelt werden (http://ogy.de/hnid).

Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit steht Russland auf
Platz 148 von 180 Staaten. Weitere Informationen zur Situation von
Journalisten in Russland finden Sie unter
www.reporter-ohne-grenzen.de/russland.



Pressekontakt:
Reporter ohne Grenzen
Ulrike Gruska / Christoph Dreyer / Anne Renzenbrink
presse(at)reporter-ohne-grenzen.de
www.reporter-ohne-grenzen.de/presse
T: +49 (0)30 609 895 33-55
F: +49 (0)30 202 15 10-29


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Datum: 15.09.2016 - 10:07 Uhr
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Kategorie:

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