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WAZ: Was die Gesellschaft zusammenhält
- Ein Essay von WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock

ID: 1155906

(ots) - Der Jahreswechsel ist traditionell die Zeit des
Innehaltens, des Bilanzierens. Und die Zeit der persönlichen
Vorsätze, ebenso der gesellschaftlichen, politischen,
wirtschaftlichen Prognosen. Das Jahr 2015 wird das Miteinander in
Deutschland in vielerlei Hinsicht auf die Probe stellen.

Eine Gesellschaft braucht einen Kitt, der sie zusammenhält. Ein
Wertesystem, das Grundlage des Handelns ist und noch über die
Einhaltung von Gesetzen hinausgeht. Es beinhaltet die Akzeptanz
demokratischer Regeln ebenso wie den Respekt vor Andersdenkenden und
Andersgläubigen. Es beinhaltet das faire Miteinander der Geschlechter
und Generationen, die freie Meinungsäußerung, den Schutz von
Minderheiten und Hilfesuchenden. Die gesellschaftliche
Herausforderung besteht nicht nur darin, diese Werte zu akzeptieren,
sondern vor allem sie zu leben. Dies gilt wechselseitig für alle
beteiligten Gruppen, denn Toleranz ist keine Einbahnstraße.

Wenn in Dresden und anderen Städten Tausende Menschen der
Pegida-Bewegung auf die Straße gehen, um ihre wie auch immer
entstandenen, diffusen Ängste zu artikulieren, dann handeln sie
zunächst einmal nach Recht und Gesetz. Es ist deshalb noch lange kein
Grund, alle Demonstranten als "Nazis in Nadelstreifen" oder "Pack"
oder "Schande für Deutschland" zu diffamieren. Diese zum Teil
ritualisierte Empörung mag zunächst für Aufmerksamkeit sorgen, hilft
aber nicht weiter.

Die Stärke der Demokratie besteht doch darin, Menschen und ihre
Ängste ernst zu nehmen und zugleich die rechten Hetzer mit ihren
diskriminierenden, ausländerfeindlichen und menschenverachtenden
Ãœberzeugungen zu entlarven. Dazu ist eine freie Gesellschaft
verpflichtet, wenn sie frei bleiben will. Wohl wissend, dass diese
Aufgabe stetig schwieriger wird - zumal es sich in den rechtsextremen
Führungspositionen schon lange nicht mehr um dumpfe Glatzen handelt,




sondern um rhetorisch geschulte, vermeintlich seriöse
Menschenversteher, die das Land vor dem Bösen retten wollen.

Doch was ist das Böse? Diese armen Menschen auf der Flucht, die
sich und ihre Familien vor Mord und Totschlag gerettet haben? Denen
es nur um das nackte Ãœberleben ging, als sie zur falschen Zeit im
falschen Land am falschen Ort waren in einer Welt, die an immer mehr
Stellen außer Rand und Band geraten ist?

Oder sind es die Millionen Menschen, die einst aus anderen Ländern
nach Deutschland kamen, seit Jahren und Jahrzehnten hier wohnen,
ihrer Arbeit nachgehen, ihren Glauben leben und sich nichts zu
Schulden kommen lassen?

Auch nicht? Wo lauert dann die Gefahr für dieses Staatswesen, das
so gefestigt ist wie kaum ein anderes in der Welt? Die Ängste sind
diffus, deshalb kann es keine einfachen Antworten geben. Aber es
müssen Antworten sein, die glaubwürdig, nahe am Leben der Menschen
und ehrlich sind. Und diese Antworten müssen aus der Politik kommen.
Denn unbestritten ist, dass sich in den Pegida-Demonstrationen ebenso
wie in den AfD-Wahlergebnissen oder den niedrigen Wahlbeteiligungen
Protest und Misstrauen äußern gegenüber "denen da oben", gegenüber
der Politik, gegenüber den etablierten Parteien. "Die Ausländer" und
"die Flüchtlinge" und "der Islam" sind die Projektionsflächen, sie
sind schlicht die Sündenböcke. Politik muss wieder glaubwürdig
werden, muss die Menschen ernst nehmen, muss die Wahrheit sagen.

Ein Beispiel: Die Bundespolitik im fernen Berlin feiert sich für
ihre Finanzpolitik und die "schwarze Null", während die verarmten
Kommunen mit vielen ihrer Probleme allein gelassen werden. Doch
gerade hier findet das Leben statt. Hier muss bei allen Beteiligten
der Integrationswille vorhanden sein oder schrittweise entstehen.
Hier müssen die Flüchtlinge untergebracht werden, hier sind
Kindergärten und Schulen vielerorts in einem schlechten Zustand, hier
geht soziale und kulturelle Infrastruktur und damit gesellschaftliche
Bindung verloren. Die Suche nach Schuldigen endet dann schnell in
Sozialämtern oder in Flüchtlingsunterkünften. Dabei gibt es
verschiedenste Lebensbereiche, in denen ehrliche Antworten auf
ehrliche Fragen gegeben werden müssen, um Glaubwürdigkeit und
Akzeptanz zu schaffen. Ein weiteres, ganz anderes Beispiel: Der
Flickenteppich Bildung in Deutschland bestraft Familien mit
Schulkindern, die bei einem Wohnortwechsel in ein anderes Bundesland
ziehen. Das ist eine ungeheure Belastung und hat seine Ursache vor
allem im Ausleben parteipolitischer Dogmen und Ideologien. Darunter
leidet eine Gesellschaft.

Ähnlich ließe sich über die Generationengerechtigkeit und die
künftigen finanziellen Anforderungen an jüngere Menschen diskutieren
und streiten. Oder über den gemeinsamen Umgang mit Krankheit und
Pflege, über die alternde Gesellschaft und deren Folgen. Oder über
Steuergerechtigkeit - hier zum Beispiel über das gebrochene
Versprechen, den Solidarzuschlag nur befristet bis 2019 für den
Aufbau in den neuen Bundesländern zu erheben. Warum geht deshalb
niemand auf die Straße, wo ist der Aufstand der betrogenen
Steuerzahler? Weil man Ehrlichkeit und Konstanz in der Politik schon
gar nicht mehr erwartet? Oder weil es mit Blick auf die Mobilisierung
von Menschen leichter ist, wenn man mit einfachen Parolen und klaren
Feindbildern argumentiert als mit vergleichsweise komplizierten
politischen Sachverhalten? Emotionen statt Fakten. Der
gesellschaftliche Kitt entsteht und hält, indem ehrliche Antworten
auf ehrliche Fragen gegeben werden. Das hat mit politischer
Verantwortung zu tun - und mit Respekt vor anderen Menschen. Ein
Vorsatz für 2015?



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Datum: 30.12.2014 - 19:19 Uhr
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