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Landeszeitung Lüneburg: "Lesen wird noch wichtiger werden" - Interview mit dem Göttinger Literaturwissenschaftler Prof. Gerhard Lauer

ID: 1155161

(ots) - Die spezifisch menschliche Kulturtechnik des
Lesens ist im Umbruch. Bildschirme treten neben das bedruckte Papier.
Software kann erkennen, bei welchem Wort wir stockten - und mit
Informationen aushelfen. Der Göttinger Literaturwissenschaftler Prof.
Gerhard Lauer ist sicher: "Die Warnungen vor dem Ende der Lesekultur
sind so alt wie diese Kulturtechnik. Sie ist aber nicht am Ende.
Allerdings wächst die digitale Kluft in der Bevölkerung."

Argentinier sollen seit Kurzem zum Lesen animiert werden, indem
ihnen beim Friseur zum neuen Haarschnitt ein neues Buch gereicht
wird. Ist das nur ein Rückzugsgefecht des Buches oder eines des
Lesens?

Professor Gerhard Lauer: Weder noch, es ist gar kein
Rückzugsgefecht, sondern ein typisch modernes Phänomen. Bücher wurden
und werden in Gemeinschaft mit allen möglichen Dingen verkauft. So im
Deutschland des 19. Jahrhunderts etwa mit Milch - wobei es hier nicht
die Klassiker waren, sondern sogenannte Schundliteratur oder manchmal
auch die Bückware. Die nun in Argentinien gewählte Verbindung ist
also eine alte Verkaufstechnik, die Bücher unters Volk bringt.

Buschleute lauschen am Feuer alten Mythen, Nerds spielen sich
durch alle Level erfundener Welten. Ist das Bedürfnis, sich in
Geschichten zu verlieren, eine anthropologische Konstante?

Prof. Lauer: Mit ziemlicher Sicherheit. Dass dies eine
anthropologische Konstante sein dürfte, erkennt man daran, dass
bereits Kleinkinder Geschichten mit anderen teilen - sofern man sie
nicht davon abhält. Das müssen nicht zwingend wortreiche Geschichten
sein, auch die Augen-Dialoge mit der Mama gehören schon dazu. Später
beginnen Kinder, Geschichten selbst zu spinnen. Sie setzen dazu ein
eigenes Gesicht auf, das die Psychologie "das Spielgesicht" nennt.
Mit diesem "Spielgesicht" bin ich eine andere Person. Egal, ob




Kaufmann oder Prinzessin - Kinder agieren gerne in Rollen. Und das
machen sie mit einer bemerkenswerten Sicherheit und Souveränität von
alleine. Nur, wenn man sie schlecht erzieht, kann man sie davon
abbringen, aber ansonsten diktiert hier die Natur der Kultur.

In der Antike galt sogar die Kulturtechnik des Lesens als
verwerflich, weil sie angeblich das Gedächtnis schwäche. Würde Plato
die heutige Kritik an Suchmaschinen bekannt vorkommen?

Prof. Lauer: Unbedingt, und er würde wahrscheinlich in dieselbe
Kerbe hauen, dass Google und Computer Zeichen des Niedergangs seien.
Und das stimmt ja, gemessen man an die Gedächtnisleistungen, die in
vorskriptualen Kulturen nötig waren. Aber die Vorteile der Schrift
waren dann doch so evident, dass keine Hochkultur auf sie verzichtet
hat. In der Morgenröte der Schrift ging es zunächst allerdings nicht
um das Niederlegen von Geschichten, sondern um Vorratshaltung,
Verwaltung und Handel. Geschichten schriftlich zu erzählen, hat lange
gedauert und dann die Welt erobert.

Seit der Zeit nur mündlicher Überlieferung wächst die Zahl der
Medien stetig - immer begleitet von Warnungen vor vermeintlichen
Gefahren. Kann man die Warnungen vor dem Internet also einfach
ignorieren, auch wenn es als erstes Mediums alle vorhergehenden in
sich vereinigen kann?

Prof. Lauer: Die Warnungen sind nicht das Interessante, sondern
der Medienwechsel. Er zeigt, dass Medien zunächst mal nebeneinander
bestehen. So hat der Kodex nicht den Papyrus ganz verdrängt und der
Buchdruck nicht die Handschrift. Aber es setzen sich diejenigen neuen
Medien längerfristig durch, die andere Medien so stark integrieren
können, dass sie diese überbieten und andere Medien nur in einer
Nische überleben lassen. In der Integrationsfähigkeit liegt dann auch
die Macht der digitalen Welt. Das Internet verfügt tatsächlich über
eine beeindruckende integrative Kraft, und die muss es auch haben,
sonst hätte es sich nicht in so kurzer Zeit in unserer ausgeprägten
Buchkultur durchgesetzt.

Kann man die Warnungen vor der Verdrängungsmaschine Internet
ignorieren?

Prof. Lauer: Ja, so ziemlich, denn diese Warnungen kehren in der
Geschichte der Medien mit schöner Regelmäßigkeit wieder. So wurde im
16. Jahrhundert davor gewarnt, Erasmus von Rotterdam zu lesen, der in
seiner "Adagia" Weisheiten antiker Autoren zusammengestellt hatte,
weil man die Klassiker dann nicht mehr in Gänze lesen würde. Das sind
Gemeinplätze, die neu aufkommende Medien schon immer begleitet haben,
und meist besagen, wir würden immer dümmer. Das ist aber nicht der
Fall, wie etwa Untersuchungen zur Entwicklung des IQs in modernen
Industrienationen zeigen.

Führen starke visuelle Reize nicht zwangsläufig zu einer Abwendung
von den Buchstaben, die erst im Kopf Bilder entstehen lassen?

Prof. Lauer: Das Lesen braucht tatsächlich ein bisschen mehr und
vor allem anderen Aufwand als das Sehen eines Films und hat den
Vorteil, nicht die Bilder im Kopf so genau wie ein Film vorzugeben.
Das schätzen viele, auch ich. Es gibt ein großes Bedürfnis, aus
wenigen schriftlichen Informationen eigene Bilder im Kopftheater zu
entwerfen, die dann einen sehr hohen persönlichen Wert haben, weil
sie von unserer eigenen Lebenserfahrung gespeist werden. Wer den
"Herrn der Ringe" liest, besitzt eigene Bilder, wer nur ins Kino
geht, sieht Peter Jacksons Bilder.

Die Fähigkeit, funktionelle Texte wie Fernsehprogramme oder
Spieleanleitungen zu verstehen, mag wachsen. Wie sieht es mit
vertieftem Lesen hochkomplexer Texte aus?

Prof. Lauer: Die gängige These ist ja die, dass die Fähigkeit des
vertieften Lesens verlorengehe. Das setzt voraus, dass wir im
digitalen Zeitalter nur noch Textschnipsel abschöpfen würden. Das ist
aber insofern nicht wahr, weil schon unsere Berufswelt nicht
einfacher wird, sondern komplexer. Es sterben die Berufe aus, die
wenig komplexe Tätigkeiten abfordern. Wer aber in einer komplexen
Berufswelt bestehen will, muss hierarchisch strukturiertes Wissen
abrufen können, das in langen Ketten von Argumenten organisiert ist
und zumeist über Jahre erworben wird. Die Fähigkeit zum vertieften
Lesen ist daher wichtiger denn je und nicht immer passen unsere
Ausbildungswege schon dazu, etwa die verkürzten Bachelorstudiengänge.
Dass es neben diesem fokussierten Lesen auch immer ein flanierendes
Freizeitlesen gab, ist klar. Beides hat sein Recht. Dass es heute nur
noch das oberflächliche Lesen gäbe, lässt sich nicht belegen.

Sie sprachen an, dass in vergangenen Jahrhunderten der Zugang zu
Medien limitiert war. Spiegelt das Unbehagen an neuen Medien
eigentlich nur das Unbehagen an einer Mediendemokratisierung wider,
an einer verloren gegangenen obrigkeitlichen Kontrolle der
Mediennutzung?

Prof. Lauer: Ja, Medienkritik ist immer auch die Kritik
derjenigen, die über Medien und Wissen verfügen, wenn andere in die
Medienwelt eintreten. Das Unbehagen hat damit zu tun, dass man nicht
genau weiß, was die Nutzer da eigentlich herunterladen und was das
dann für die Gesellschaft bedeutet. So hat man mit solchen Argumenten
einst etwa gegen Heftromane gewettert und sie noch im 20. Jahrhundert
auf Schulhöfen verbrannt. Heute sind ganze Staaten damit beschäftigt,
den freien Zugang zum Netz zu unterbinden. Und immer tauchen dann die
alten Argumente auf, der große Lümmel Volk bedürfe solcher Anleitung
von oben.

Erst ab dem 18. Jahrhundert diente das Buch der Masse als Mittel
zur Selbstidentifikation. Wird sich dieser Trend in der digitalen
Welt noch verstärken, weil das Medium auf das Nutzerverhalten
reagiert und es so verstärkt?

Prof. Lauer: Damit sprechen Sie eine der interessantesten
Entwicklungen an, die wir alle noch erleben werden. Grundsätzlich
bieten Geschichten die Möglichkeit, uns selbst in unseren eigenen
Wahrheiten zu verstärken und Persönlichkeitsmerkmal zu beeinflussen.
Im Buchzeitalter war das schon möglich. Goethe spricht in seinem
"Werther"-Roman vom Buch als Freund. Das Schreiben eines Tagebuchs
ist ein solcher Freund. Heute ist dieses medienverstärkte Ich in
einem Ausmaß möglich, dass wir überhaupt keine Vorstellungen davon
haben, wie sich unsere Identitäten verändern werden, wenn sie diese
Dauerverstärkung haben. Das kann die negative Verstärkung für
denjenigen sein, der sich nur mit Sex- und Gewaltfantasien
beschäftigt. Oder auch positiv, denkt man an den Youtube-Star
Melanie, die ihr Leben in zig Geschichtchen mitteilt - und
massenhaftes Feedback erhält. Denken sie an die zehntausenden von
Autoren die Fan-Fiction schreiben, also bekannte Buch- oder
Filmstorys weiter spinnen, sich dabei gegenseitig kritisieren oder
auch gemeinsam Welten entwickeln.

Wie groß ist die Gefahr angesichts unzähliger maßgeschneiderter
Interesse-Nischen, dass die Allgemeinbildung sinkt, weil immer
weniger Menschen Informationen eher zufällig am Rande aufnehmen, etwa
beim Zeitunglesen?

Prof. Lauer: Zufälliger sind die Informationen, die wir aufnehmen,
nicht geworden, nur die Wege der Informationsaufnahme sind
vielfältiger geworden. Noch gelten zwar Zeitungen als verlässlichere
Medien. Und der 'Tatort' ist immer noch ein Gesprächsthema in
Deutschland. Aber man sieht, dass andere mediale Hotspots immer
wichtiger werden, über die Namen und Themen aus einer Nische in die
Mitte der Gesellschaft katapultiert werden. Zu vermuten ist, dass
diese Themensetzungen volatiler werden, das heißt, die Trends werden
in einem schnelleren Tempo gewechselt. Auch darüber wurde auch schon
vor hundert Jahren geklagt.

Schon bei Jules Verne versanken Leser in fiktiven Welten. Dass
seine Leser diese mit der realen Welt verwechselten, wie etwa
TV-Serienjunkies, dürfte selten vorgekommen sein. Neigen visuelle
Medien dazu, die Hirne ihrer Nutzer zu erobern?

Prof. Lauer: Das ist kein neues Phänomen, das ist schon Rousseau
im 18. Jahrhundert passiert. Er bekam körbeweise Post von seinen
Lesern, die seine erfundenen Figuren aus dem Roman "Julie oder Die
neue Heloise" kennenlernen wollten. Das ist, was Fans ausmacht: Sie
wissen, dass die Figuren nicht real sind, möchten sich aber
vorstellen, dass sie es wären. Wir wollen in Geschichten verstrickt
sein, gerade erfundenen. Aber wir wissen zugleich, dass sie erfunden
sind.

Vergrößern digitale Medien die soziale Kluft zwischen denen, die
einen ipad und ein Lexikon bedienen können, und denen, die nur
gelernt haben, Medien zur betäubenden Reizüberflutung zu nutzen?

Prof. Lauer: Das ist leider der Fall. Zwar sind Zahlen nur mit
großer Vorsicht zu bewerten, aber man kann davon ausgehen, dass rund
15 Prozent der Bevölkerung große Schwierigkeiten haben, mit den neuen
Medien so umzugehen, dass sie nicht nur negative Effekte auf ihr
Leben haben. Es gibt außerdem ca. 7 Millionen Menschen in
Deutschland, die verdeckte oder funktionale Analphabeten sind und
einen Computer nur eingeschränkt nutzen können. Es muss uns also viel
daran liegen, den digitalen Graben schmaler zu machen, gerade weil
moderne Gesellschaften dahin tendieren, dass die Starken noch stärker
werden und dass die Schwachen, etwa die, die mit nichts hierher
einwandern, große Probleme haben, auf ein vergleichbares Niveau zu
kommen, um Computer und Internet so gescheit zu nutzen, dass es auch
ihnen nützt.

Wächst also die Verantwortung der Eltern, dem Nachwuchs mittels
Vorlesen die Kulturtechnik des Lesens beizubringen, um nicht digitale
Analphabeten heranzuzüchten?

Prof. Lauer: Ja, ohne entsprechend sensibilisierte Eltern, Lehrer
und Freunde wird es nicht zu machen sein. Wie alle Kultur muss das
Lesen eingeübt werden und das fängt mit dem abendlichen Vorlesen an,
geht weiter über die Präsenz von Büchern und anderen Medien im Umfeld
der Kinder und endet bei der Vermittlung des verantwortlichen Umgangs
mit Medien. Ob auf dem Kindle oder mit dem Buch vorgelesen wird, ist
nebensächlich. Lesen ist vor allem und zuerst ein sozialer Akt.
Dasselbe gilt für das Fernsehen oder die Computernutzung. Wenn der
nicht gemeinsam eingeübt wird, bekommen Gesellschaften Probleme.

Ist die Zeit großer Buch- und Zeitungsverlage vorbei, weil die
Leserschaft sich ausdifferenziert und somit die Märkte immer
kleinteiliger werden?

Prof. Lauer: Aktuell sehen wir eher zwei gegenläufige
Entwicklungen als eine eindeutige Tendenz. Es gibt eine
Oligopolisierung sowohl in der Buch- als auch in der
Zeitungsverlagsszene und in der Internetwelt erst recht. Auf der
anderen Seite entstehen ganz neue Wege, sich zu Wort zu melden und
seine Geschichten an die Leser zu bringen, wie etwa die wilde Szene
des Selfpublishings. Und beide treffen auf stetig wachsende Märkte,
die ihrerseits kleinteilige Spezialpublika zulassen. Das ist ein
ziemlich verwirrender Zustand, von dem keiner weiß, wohin die Reise
geht.

Aber zumindest wissen wir, dass die Kulturtechnik des Lesens
bestand hat...

Prof. Lauer: ...die wird noch wichtiger werden.

Das Interview führte

Joachim Zießler



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe(at)landeszeitung.de


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Datum: 23.12.2014 - 19:06 Uhr
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