PresseKat - Syriens verlorene Generation / Psychologe: "Kriegstraumatisierte Kinder sind tickende Zeitbombe

Syriens verlorene Generation / Psychologe: "Kriegstraumatisierte Kinder sind tickende Zeitbomben" (FOTO)

ID: 1251142

(ots) -
Der Krieg in Syrien geht ins fünfte Jahr und hinterlässt eine
verlorene Generation. Tausende Kinder erleben täglich wie ihr Zuhause
zerstört wird, Familienangehöre sterben oder sie selbst durch
Explosionen oder Heckenschützen verwundet werden - nicht ohne Folgen
auch für die Gesellschaft!

Im Interview erklärt SOS-Psychologe Nabil Kafrouni (30) die
Auswirkungen auf die Kinderseelen.

Herr Kafrouni, Sie behandeln Kinder im SOS-Child-Care-Center in
Al-Saboura in Damaskus. Wie reagieren Kinder auf verstörende
Kriegserlebnisse?

Kafrouni: Kinder, die direkt mit dem Krieg konfrontiert waren also
Tote und Verletzte gesehen haben oder Bombardierungen und Explosionen
erleben mussten, verdrängen die Erlebnisse oft. Das hat enorme
Auswirkungen auf die seelische Gesundheit. Sie entwickeln Phobien
z.B. gegen Geräusche. Für uns alltägliche Geräuschkulissen, werden
für sie zur Bedrohung. Diese verursachen Angst und Panik, weil sie
die Kinder an bestimmte Erlebnisse in der Vergangenheit erinnern.
Andere verlieren das Vertrauen in die Menschen, die sie umgeben. Nach
Gewalterfahrungen trauen sie niemandem mehr. Sie entwickeln z.B.
Depressionen. Haben Angst raus zu gehen. Viele zeigen extrem
aggressives Verhalten gegenüber ihrer Umwelt und sich selbst.

Was passiert mit Kindern, die keine psychologische Unterstützung
erhalten?

Kafrouni: Trotz aller Anstrengungen erreichen Organisationen wie
die UN, der Rote Halbmond und wir nur acht bis maximal zehn Prozent
der traumatisierten Kinder. Die Folgen einer Nicht-Behandlung können
erschreckend sein.

Ein Beispiel: Vor gut sechs Monaten wurden wir auf vier Kinder in
einem Park in Damaskus aufmerksam. Sie lebten dort allein, waren
offensichtlich Waisen. Zwei der Kinder konnten wir nach Genehmigung
von den Sozialbehörden aufnehmen, zwei blieben dort.





Die beiden Kinder bei uns bekamen sofort psychologische Hilfe,
eine Umgebung, in der sie sich sicher fühlen können, sie spielen,
interagieren mit anderen Kindern. Ihre Entwicklung ist positiv.
Aggressionen gegen sich selbst und gegen Mitmenschen nehmen deutlich
ab.

Die anderen beiden im Park haben neulich ein Kind getötet beim
Versuch ihm Geld zu stehlen. Sie sind neun und zehn Jahre alt!

Wie reagieren sie auf Traumata? Wie wirken sie entgegen?

Kafrouni: Traumatisierte Kinder suchen ständig Schutz. SOS
reagiert auf dieses Bedürfnis, indem wir ihnen die Geborgenheit einer
Familie und eines stabilen sicheren Umfelds geben.

Viele Kinder müssen zunächst medikamentös beruhigt werden. Dann
versuchen wir, sie wieder mit ihrem Umfeld und der Umwelt zu
konfrontieren. Zuerst mit Gleichaltrigen und Schritt für Schritt auch
mit Erwachsenen. Wir schicken die Kinder zusammen mit Altersgenossen
schwimmen oder Fußballspielen, damit sie wieder soziale Fähigkeiten
ausbilden können und das Vertrauen in die Menschheit zurück gewinnen.

Können Kinder Schutzmechanismen ausbilden, um mit einer
Kriegssituation besser umzugehen?

Kafrouni: Generell schon. Allerdings werden diese Fähigkeiten im
Alter von sechs bis acht Jahren entwickelt. Wenn Kinder in dieser
Zeit Gewalt oder verstörenden Ereignissen ausgesetzt sind, ist es
sehr schwer für sie, diese Schutzmechanismen zu entwickeln. Wir
beobachten in Syrien, dass die Kinder sehr schnell erwachsen werden.
Ihr Verhalten entspricht nicht dem eines gleichaltrigen Kindes in
Europa oder in den USA. In der Therapie versuchen wir sie mit
Spielen, Malen etc. wieder zu dem Zeitpunkt zurückzuführen, der ihrem
Alter entspricht.

Wollen Sie sagen, der Krieg hinterlässt eine Generation von
Gewalttätern?

Kafrouni: Ja, die Möglichkeit besteht. Natürlich heißt das nicht,
dass jedes syrische Kind, das während des Krieges aufwächst, zum
Gewalttäter wird. Aber die Wahrscheinlichkeit ist deutlich erhöht bei
schwer traumatisierten Kindern, die mehrfach Tod und Gewalt erlebt
haben und dadurch komplexe Belastungsstörungen entwickelt haben. Wird
diesen Kindern nicht geholfen, d.h. hört der Krieg nicht auf und
schaffen wir es nicht, sie in die Gesellschaft zurückzuführen, ihnen
ein sicheres Leben wieder zu geben, können sie Verhaltensweisen
entwickeln, die für sie auch als Erwachsene nicht kontrollierbar
sind: Angst, Aggression, Selbstaggression, Depression bis hin zu
Kontrollverlust über ihren Körper. Hier ist die Wahrscheinlichkeit
hoch, dass dieser Mensch, wenn er mit Gewalt konfrontiert wird, in
alte Muster verfällt. Diese Menschen sind tickende Zeitbomben. Zudem
neigen unbehandelte Kinder dazu, sich ein Umfeld zu suchen, indem sie
ihre Aggressionen ausleben können. Für extremistische Gruppierungen
sind diese Kinder eine leichte Beute.

Gibt es denn nichts, was dem entgegenwirkt?

Kafrouni: Doch. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Kinder eine
starke Resilienz, eine starke psychische Widerstandskraft, entwickeln
können. Diese Widerstandskraft entwickeln sie am besten in einer
stabilen Familie, die ihnen Schutz und Geborgenheit gibt. Auf diesen
Bereich sind wir bei den SOS-Kinderdörfern spezialisiert. Unsere
Programme fokussieren genau darauf.

München, 18.08.2015



Pressekontakt:

Katharina Ebel
Kommunikation
SOS-Kinderdörfer weltweit
Hermann-Gmeiner-Fonds Deutschland e.V.
Ridlerstraße 55, 80339 München
Tel.: +49/89/179 14-287
Fax: +49/89/179 14-100
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