(ots) -
"Verzicht ist Verrat", so tönte es damals. Ein
großes Wort, Verrat. Ein großes politisches Gefühl. Wer würde heute
noch so reden? "Merkels Euro-Rettung ist Verrat"? Niemandem, der Wert
darauf legt, für bei Trost gehalten zu werden, würde das
einfallen.
Dass es in der Bundesrepublik eine Zeit gegeben
hat, in der Sprache und Umgangsformen des geistigen Bürgerkrieges
gang und gäbe waren, daran erinnert uns jetzt eine bizarre
Enthüllung: Nach dem Regierungswechsel 1969 legten sich die
C-Parteien einen "Geheimdienst" zu, um den Kanzler Brandt und seine
Ostpolitik konspirativ zu unterminieren.
Es ist eine uns
Heutigen fremde Zeit. In der die Westdeutschen allenfalls erst
halbwegs in der Normalität der Demokratie angekommen waren.
Konservative den Staat instinktiv als ihren Besitz empfanden. Und
dass erstmals seit 1930 wieder ein Sozialdemokrat die
Regierungsgeschäfte führte, für manche ein Skandal war.
Es
war auch die Zeit der unverheilten Wunden und der großen Ängste, die
das politische Klima mit Schärfe aufluden. Jenseits des Eisernen
Vorhangs lauerte furchterregend das Böse. Diesseits erlebten viele,
die Pommern oder Schlesien noch als Heimat gekannt hatten, ihre
aktivsten Jahre. Mit Kommunisten reden? "Verzicht" üben? Die
Anerkennung der polnischen Westgrenze, die 1990 als notarieller Akt
vollzogen wurde, damals ist sie entschieden worden, in einem wüsten
Krawall.
Diese Erfahrung, dass politischer Streit
tatsächlich etwas bewirken kann, fehlt uns womöglich heute: Eine
Wahlbeteiligung von 92 Prozent wie 1972 hat es weder vorher noch
nachher je gegeben.