(ots) - Mal ehrlich: Wie ist die Gefühlslage nach dem
historischen Freispruch? Erleichtert, dass der Zirkus vorbei ist?
Sicher. Aber da schwingt auch das beklommene Ahnen mit, dass wir
keine Sternstunde der Demokratie erlebt haben. Immerhin aber eine
Lehrstunde zur politischen Kultur. Deutschland darf Christian Wulff
dankbar sein, weil sein Fall grundsätzliche Fragen aufgeworfen, einen
Blick hinter den Vorhang des politischen Theaters ermöglicht und
nebenbei auch unseren Umgang miteinander thematisiert hat.
Eine eindeutigkeitsversessene Republik hat gelernt: Rote Linien
werden im Schlachtennebel des aufgeregten politischen Alltags
individuell wahrgenommen. Es gibt keinen Hauptschurken, aber viele,
die in der Logik ihres Systems gefangen sind. Medien stehen im
beinharten Wettbewerb, Staatsanwälte sind nicht nur uneitle Diener
der Wahrheit, die strapazierte Moral ist eine doppelte bis dreifache.
Da wird Politik behauptet, aber über eine Frau getratscht. Da wird
verdreht, um unbedingt die Deutungsmacht zu behalten.
Die Lehre für Wulff selbst: Seine Befreiung begann, als er sich
von Halbwahrheiten verabschiedete und stattdessen den quälenden
Gerichtsweg beschritt. Ohne Tricks und Deals hat er sich der hart
ermittelnden Staatsanwaltschaft gestellt. So viel Mut zur Klarheit
herrschte nicht immer bei ihm. Das Land hat gelernt, dass sich nicht
nur Schnellmeiner in ihren Annahmen verheddern, sondern auch
Staatsanwälte. Der Mythos ist zerstört, dass Ankläger stets die Guten
seien. Die Berliner Elite überdenkt seit Wulffs Anruf beim
"Bild"-Chef ihr Kommunikationsverhalten. Die Medienwelt darf prüfen,
wo die Grenzen zwischen guter, harter Berichterstattung und Schaden
für Ruf, Würde, Zukunft und Konto eines Menschen entstehen, vor allem
aber, inwieweit sich Enthüller zu willfährigen Instrumenten von
Intriganten machen.
Schließlich ist zu klären, ob unsere Skandal-Skala richtig
justiert ist: Warum jagen Staatsanwälte keine Politiker, deren
stillgelegte Baustellen jeden Tag die Kosten von einem Jahr Ehrensold
auffressen? Bellen wir unter den richtigen Bäumen?
Bleibt der gute Vorsatz: Beim nächsten Skandal wird alles anders,
wir werden sauber Juristisches, Moralisches und Geschmackliches
trennen und nie wieder fordern, dass ein Staatsoberhaupt
übermoralisch sein muss, sofern wir dieses Ziel nicht auch für uns
selbst verfolgen.
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